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Vom anderen zum Mitmenschen

Vom anderen zum Mitmenschen 

Ein Weg von mindestens hunderttausend Jahren

von Hans-Martin Samietz

Wie kommen Menschen zusammen und wie kommen sie dazu, zu kooperieren? Das erste hat sich im Laufe der Geschichte ergeben. Kenner der Entwicklung der Menschheit sehen in der Festlegung des homo sapiens auf den Weizen als seine bevorzugte Nahrungsquelle vor 20.000 bis 10.000 Jahren den Ausgangspunkt für das dichte Zusammenwohnen des Menschen auf wenigen Quadratmetern (so zum Beispiel nachzulesen bei Youval Noah Harari in „Eine kurze Geschichte der Menschheit“). Was am Rande von Weizenanbauflächen begann, führte also über viele Umwege und auch andere Einflüsse hin zu unseren Megastädten von heute mit mehr als 10 Millionen Einwohnern, Städten wie Tokio-Yokohama, Delhi, Shanghai, Mumbai, Peking (Asien), São Paulo (Südamerika) oder Mexiko-Stadt (Nordamerika). Das zweite ist die Geschichte eines langen Wegs mit verheerenden Auseinandersetzungen und endlos langen Todeslisten – ein Weg, der bis heute nicht zu Ende gegangen ist. Es ist der Kampf um den verbindlichen Wert jeder einzelnen Person beim gemeinsamen Wirken einer Gruppe von Menschen.

Wie nun geht diese Geschichte des gegenseitigen Be- und Missachtens von Menschen? 

Es ist eine Geschichte von Geschichten, Utopien, Rassen und Klassen, Einbildungen und Begabungen. Es ist die Geschichte von Gewalt, Herrschaft und Beherrschung.

100.000 Jahre her: Kooperation

Autoren wie Michael Tomasello sind der Auffassung, dass der homo sapiens bereits vor seiner Bindung an Weizenanbauflächen planmäßig, kooperativ gehandelt hat (nachzulesen in „Eine Naturgeschichte der Menschlichen Moral“). Sollte das Erbeuten von sogenanntem „Großwild“ wie zum Beispiel Elchen oder Hirschen gelingen, mussten die beteiligten Jäger ein gemeinsames Konzept ihrer Jagdhandlung haben. Wie verhalten wir uns bei der Ankunft der Beute? Wie bringen wir den Hirsch zur Ermüdung? Wie teilen wir die Beute untereinander auf? Und das konnte nicht durch lautes Rufen geschehen, das die Beute verjagt hätte. Es brauchte so etwas wie eine still geteilte Vorstellung von dem, wie man die Jagd gemeinsam unternehmen wollte. Jedenfalls fanden die frühen Menschen auf diesen Bedarf stiller Abstimmungen eine zielführende Antwort. Tomasello geht von der Entwicklung einer „geteilten Intentionalität“ bei den frühen Menschen aus. Diese „geteilte Intentionalität“ hat sich im Laufe von Jahrhunderttausenden auf viele andere Lebensbereiche im Alltag des homo sapiens ausgeweitet.

Was ursprünglich im Kontext von gemeinschaftlichen Jagdhandlungen an mentaler Kapazität im Menschen entstanden ist, das entwickelte sich über Jahrhunderttausende hin zu unseren inneren Abwägungen vor, während und nach unseren Handlungen mit- und untereinander, die wir Moral nennen.

10.000 Jahre her: Kriegerische Handlungen

Die Fähigkeit zur Kooperation sei also viel älter als das dichte gemeinschaftliche Wohnen von uns Menschen. Und doch wurde diese Fähigkeit von der Fähigkeit zur Aggression gegenüber Gruppen von Artgenossen, die der eigenen Siedlungsgruppe die gefundene Weizenanbaufläche streitig machen wollten, vor einigen 10.000 Jahren überlagert. Aggression gegen bestimmte Gruppen unserer Artgenossen und ihre Umsetzung in kriegsführendes Handeln wird durch die Sesshaftwerdung des Menschen vor eben diesen 10- bis 20.000 Jahren (siehe oben) zum tief eingegrabenen Besitz unserer heutigen Psyche.

Neben der Abwehr Fremder entstand die Notwendigkeit, das Leben innerhalb der eigenen Siedlung zu ordnen, Abläufe zu etablieren, Gewalt gegenüber den Intensionen Einzelner auszuüben, um zu gemeinsamen Regeln im gemeinsamen Alltag zu gelangen. Ein Schuss jener in der kämpferischen Behauptung gegenüber Gruppen fremder Artgenossen erlernten Aggression brach sich oft auch bei Herrschern über Angehörige der eigenen Gruppe Bahn. Wurde diese Gewalt, der es zum Ordnen von Alltagsangelegenheiten ohne Zweifel bedurfte, jedoch dann vorrangig zum Wohl des ordnenden (herrschenden) Einzelmenschen eingesetzt, also zum Privatzweck degradiert, dann kehrte sich die ursprünglich lebenserhaltende Aggressionsfähigkeit ungünstigerweise gegen die eigene Gruppe. Dieses Dilemma der Gewalt ist der Ausgangspunkt einer dritten Entwicklung, die über die vergangenen 3000 Jahre hinweg zur Ausprägung unserer Vorstellungen von der richtigen Ausübung dieser Ordnungsgewalt geführt hat, der Entwicklung von politischen Systemen.

Seit 3000 Jahren – Nachdenken über Herrschaftsformen

Wer also ist ein guter Herrscher? Kann Gewalt überhaupt gut sein und wie sollte sie idealerweise ausgeübt werden? Platon löste das Problem der „guten“ Herrschaft durch ein Expertengremium, den sogenannten „Philosophen-Königen“. Nur wenigen Menschen, nämlich ihnen, den Philosophen, war es vergönnt, das Licht der Wahrheit in Reinform erblicken zu können. Ähnlich wie das Alte Testament von den lebensbedrohlichen Folgen des unmittelbaren Erblickens des Antlitzes Gottes zu berichten weiß, würden nach Plato die meisten Menschen Gefahr laufen, beim Erblicken der Wahrheit zu erblinden und müssen sich durch den Rückzug in eine dunkle Höhle vor der Intensität ihres Lichtes schützen (Platons Politeia).

Annähernd 2000 Jahre wiederum vergingen seit Platon, bis Immanuel Kant jeden Menschen zum mutigen Abstreifen „seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ermahnte (siehe Aufsatz: „Was ist Aufklärung?“). Jeder Mensch sei mit der Kraft der Vernunft begabt. Deshalb könne und müsse jede politische Entscheidung auch vor dieser jeder Person innewohnenden Instanz, der Vernunft, gerechtfertigt werden. Doch die Vernunftbegabung jedes einzelnen Menschen konnte nicht der Weisheit letzter Schluss sein. War doch offensichtlich, dass die Erkenntnisfähigkeit auch mit Hilfe dieser verheißungsvollen und allgemein verbreiteten menschlichen Begabung immer eine begrenzte sein würde. Die Vernunftbegabung jedes Menschen war ein Ausgangspunkt, doch keine Lösung für das Problem guter Herrschaft. Es blieb also die Herausforderung des suchenden Tastens nach dem Schlüssel für eine gute Regierungsform. Im Unterschied zu früheren Konzepten konnte nach Immanuel Kant jedoch niemand mehr von der Teilnahme an diesem Suchprozess begründet ausgeschlossen werden.

Das ist im Wesentlichen der Stand unserer heute gültigen Vereinbarungen darüber, wie wir regiert werden wollen, und was die Rolle jeder einzelnen Person im Gefüge von Macht ist. Macht ist, den Raum der Gründe anderer beeinflussen zu können (Rainer Forst, Normativität und Macht). Gründe sind der Ausgangspunkt von Entscheidungen. Wer die Entscheidungen, das Zusammenleben Menschen betreffend, heute in unserer Gesellschaft trifft, darüber gibt es einen breiten Konsens. Die Entscheider erhalten ihre Macht von den Menschen, die durch ihre Entscheidungen betroffen sind, in der Regeln nicht für jede einzelne, sondern gebündelt für die in einem bestimmten Zeitraum anstehenden Entscheidungen. Diese Zeiträume heißen Legislaturen. Das Herrschaftssystem dazu nennen wir Demo-Kratie (Volks-Herrschaft). Für den Zeitpunkt von Wahlen liegt die Macht bei der Gruppe der von Herrschaftsentscheidungen Betroffenen.

Wohin geht die Reise?

Wohin die Reise von uns Menschen als Menschheit schließlich gehen wird, und ob es uns gelingen wird, jeder und jedem neben und um uns eine Stimme zu geben und diese auch hören zu wollen, dass bleibt eine offene Frage. Wird es uns als Menschheit gelingen, das kooperative Potential vom Anfang unseres Weges als Menschen freizulegen, zu erhalten und weiterzuentwickeln?

Hans-Martin Samietz

Schönstatt-Pater.
Mitglied der basis-Redaktion.

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