Vom kleinen Evangelium des Alltags
von Karl Kardinal Lehmann
Im vergangenen Jahr haben wir 20 Jahre zurück auf die Vollendung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren geschaut. Die Erinnerung war noch hellwach. Papst Franziskus hat noch zu dieser guten Stimmung beigetragen durch die Ausrufung eines besonderen Heiligen Jahres der Barmherzigkeit. Die Kirche hat diesen Aufruf des Papstes gut aufgenommen und in vielen Teilen der Weltkirche auch fruchtbar und ermutigend gestaltet. Mit dem Erscheinen des Weltrundschreibens „Die Freude der Liebe“ (Amoris laetitia vom 08.04.2016) hat der Papst die jahrelangen Beratungen unserer Kirche mit dem Zentrum der beiden Synoden 2014/15 zum Thema Ehe und Familie erstaunlich schnell und wirklich weiterführend zu einem ersten Ziel geführt. Darauf lässt sich aufbauen. Ich schlage einige zentrale Akzente dafür vor.
Der Verlust an Religiosität und
Glauben in Gesellschaft und Kirche
Wir sind in vielen Gesellschaften und eben auch in der Kirche religiös in den letzten Jahrzehnten sehr abgesunken. Wir haben z.B. in 30 Jahren gegen 10% Gottesdienstbesucher an Sonn- und Feiertagen verloren, von ca. 20% auf durchschnittlich 10%. Vieles ergibt sich daraus, z.B. vom Verlust des minimalen religiösen Wissens zum Niedergang vor allem der Taufen und der kirchlichen Trauungen. Im Gegenzug müssen wir Gott neu suchen und finden. Wir leben im Alltag oft wie Heiden. Wir leben oft so, als ob es Gott gar nicht gebe. Wir müssen wieder ganz unten und ganz klein anfangen und unsere Wirklichkeit und unser Leben in ihr neu durchbuchstabieren. Lassen wir uns von den großen Erzählungen der Bibel im Alten und Neuen Testament dazu aufrufen. Auch in der modernen Dichtung und Kunst können wir wie natürlich in der Theologie und Spiritualität unserer Tage manche Hilfe finden. Wir brauchen nicht mutlos zu werden. Aber es besteht ohne eine Erneuerung auch die Gefahr, dass wir bodenlos werden.
Oft kann uns der erneute Gewinn der Tiefe eines Wortes oder Bildes wieder auf die Spur bringen
Wenn uns Religion und Glaube noch interessieren, ersticken wir oft in der Dauerrede über unsere Welt, besonders auch über unseren Glauben. Wir reden pausenlos, aber können nicht mehr ruhig werden, schweigen und mit tiefem Gehalt reden. Wir lassen uns gedankenlos durch einen Wortschwall überschwemmen. Auch ein Verweilen in der Schöpfung oder ein tiefes Gespräch untereinander kann uns erneuern. Auf diesen Wegen begegnen wir auch Gott, oft und zuerst noch namenlos, denn er hat viele Vornamen und Namen.
Wir brauchen eine größere geistige Selbständigkeit
Wir werden den ganzen Tag berieselt und beeinflusst: das Gerede mit den täglichen Gerüchten; die tägliche Werbung, die uns überall regelrecht überfällt. Noch die letzten ruhigen Sekunden z.B. vor Nachrichten müssen ausgenützt werden; umso mehr können wir unsere eigenständige Denkfähigkeit verlieren. Wir müssen eine neue Nachdenklichkeit erwerben und müssen gegenüber allen Verführungen standhaft werden und unabhängig bleiben. Dagegen können helfen: Schweigen, Nachdenken, Meditation, nachdenkliches Lesen, Biblische Besinnung, gutes Gespräch mit Freunden, gemeinsam ein Urteil bilden, Mut haben zur Korrektur von Meinungen.
Respekt und Rücksichtnahme gegenüber Mitmenschen
Unser Umgang mit Anderen ist in vielem rücksichtslos geworden. Wir halten uns nicht mehr an einen gepflegten, höflichen Stil des Umgangs miteinander. Oft bewegt uns nur unser Vorteil. Wir halten uns schon lange nicht mehr an Spielregeln, z.B. im Verkehr. Viele sprechen mit dem Handy pausenlos beim Überqueren einer Straße. Rücksicht erwarten wir von Anderen. Nirgends zeigt sich ein oft verborgener Egoismus so stark wie in diesen Dingen.
Wir könnten noch fortfahren. Es soll genügen. Wenn wir nachdenken, entdecken wir rasch unsere Mängel. Gestehen wir uns und gegenüber unseren Partnern, vielleicht mit ein bisschen Humor unsere Grenzen ein. Das Evangelium von den kleinen Alltagstugenden ist keinesfalls bedeutungslos. Wir lieben uns ja selber tiefer, wenn wir uns in kleinen Schritten verbessern.
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