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Von innen bewegt

Die Welt hinter der Welt verstehen

Gott erfahren als einen Gott des Lebens

von Hubertus Brantzen

Die Menschen um uns herum fremdeln immer mehr mit der Vorstellung, dass ihr Leben etwas mit Gott zu tun haben könnte. Schon gar nicht mit einem Gott, wie ihn die Kirche verkündet, denn deren Glaubwürdigkeit befindet sich zurzeit auf einem Allzeittief. Viele fragen sich offenbar, was von einem Gott zu halten ist, dessen Verkünder so wenig Vertrauen verdienen. Da lädt man doch besser, wenn die Oma stirbt, einen Begräbnisredner ein oder einen freien Trauungsredner, wenn die Tochter heiratet. 

Bei den Menschen, die in den Gottesdienst gehen und am Gemeindeleben teilnehmen, sieht das anders aus. Von den drei bis sechs Prozent der Christinnen und Christen, die in unseren Breiten regelmäßig an Gottesdiensten teilnehmen, kann man annehmen, dass sie das schätzen, was ihnen in Gottesdienst und Predigt gesagt wird. Der Glaube an Gott und die damit verbundenen Rituale bereichern ihr Leben, geben Halt in Krisen, schenken dem Leben eine Perspektive und vermitteln Sinn selbst in schwierigen Situationen.

Glaube auf den Pilgerwegen des Lebens gesucht

Glaube und Gottessuche beschränkt sich aber nicht auf Gottesdienst und kirchliche Rituale. Persönliche Glaubenserfahrungen werden immer mehr auch in ganz anderen Zusammenhängen gesucht. Das zeigt zum Beispiel der uralte und seit einigen Jahren neu entdeckte Brauch des Pilgerns. Das Zweite Vatikanische Konzil hat in seiner Beschreibung der Kirche davon gesprochen, Kirche sei ein „pilgerndes Gottesvolk“. Riesige Menschenmengen nehmen das wörtlich und machen sich alljährlich auf den Weg, etwa nach Santiago de Compostela. 2023 waren es fast eine halbe Million Pilgerinnen und Pilger (während es in den 1980er und 1990er Jahren noch weniger als 10.000 pro Jahr waren). Neben den Spaniern sind es vor allem US-Amerikaner, Italiener und Deutsche, die den „Camino“ laufen. Menschen aus fast allen Nationen sind
mittlerweile vertreten. 

https://weltkirche.katholisch.de/artikel/50030-neuer-pilgerrekord-auf-dem-jakobsweg 

Von denen, die tatsächlich in Santiago ankommen und sich im Pilgerbüro melden, um eine Urkunde zu erhalten, geben zurzeit 42,6 Prozent „religiöse Gründe“ für ihre Pilgerschaft an, 34,7 Prozent „religiöse und andere Gründe“, 22,7 Prozent „nicht-religiöse Gründe“. Ungewöhnliche Erfahrungen und Spüren besonderer Energie wünschen sich wohl alle. Für eine gewisse Anzahl ist es eher eine Frage des Lifestyles. 

Für die meisten aber bedeutet eine solche Pilgerschaft offenbar eine Spurensuche nach Gott, unterwegs auf Pilgerpfaden, die Menschen seit Jahrhunderten benutzt haben. Sie reihen sich in eine über 1000 Jahre gewachsene Gemeinschaft ein, in einen hoffnungsvollen Menschenstrom, der durch ganz Europa fließt. Es geht ihnen um die Begegnung mit Gott und mit den Menschen, auch um das Wahrnehmen der Natur – und nicht zuletzt um eine Konfrontation mit sich selbst, um eine bewusste Erfahrung der eigenen Seele, die im Trubel des Lebens oft zu kurz kommt und deren Stimme übertönt wird. 

Sehnsucht, das Leben zu verstehen und zu gestalten

Damit bedeutet Pilgern mehr, als nur loszulaufen oder aus dem Alltag auszubrechen. Es wird zum Sinnbild für das Leben überhaupt, in dem es letztlich darum geht, das eigene Leben besser verstehen und mit neuen Ideen und Energien wieder kreativer gestalten zu können. Hier zeigt sich die Motivation, das alltäglichet Einerlei und Allerlei aufzubrechen und in eine Tiefenschicht des Lebens vorzustoßen. Ihr zugrunde liegt die Sehnsucht, hinter der vordergründig erlebten Welt tiefere, bereichernde und tröstende Dimensionen zu entdecken. Und was ist das anderes als eine Sehnsucht nach Gott, wie sie schon der Psalmist ins Gebet brachte: 

„Gott, du mein Gott, dich suche ich,

meine Seele dürstet nach dir.

Nach dir schmachtet mein Leib

wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser.“

Ps 63, 2

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Hubertus Brantzen

Hubertus Brantzen Prof. Dr., Pastoraltheologe, Mainz.

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Beitragsfoto: © jakobsweg-xtberlin · pixabay.com