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Von uralten Bildern, die noch heute wirksam sind

Von uralten Bildern, die noch heute wirksam sind

von Hubertus Brantzen

Vor einiger Zeit reiste ich mit einer Gruppe auf die „grüne Insel“. In Dublin hatten wir in einem Haus der Jesuiten ein Gespräch über den Nordirland-Konflikt. Wir wollten wissen, wie es zu dem Konflikt gekommen war und wie die Aussichten auf eine bessere Zukunft seien. Ein Pater mittleren Alters begann mit seinen Ausführungen bei Ereignissen im 13. Jahrhundert. Breit erzählte er, wie sich die Beziehungen der Iren zu den Briten entwickelt hatten. Als er nach einer halben Stunde erst im 16. Jahrhundert angekommen war, meldete ich mich zaghaft zu Wort mit der Frage, wann er uns etwas zum aktuellen Konflikt sagen wolle. Ungnädig fuhr er mich an, wie wir die Gegenwart ohne die Vergangenheit verstehen wollten. Uns wurde deutlich, wie sehr das Volk auf der Insel aus seiner Vergangenheit lebt und die Gegenwart beurteilt.

Im gleichen Land hatte ich bei einem späteren Besuch eine ähnliche Erfahrung. In einem Gespräch in der südirischen Stadt Wexford erzählten Familien, dass diese Engländer bösartige Menschen seien. Diese hätten drei Schiffe mit Weizen, der für sie bestimmt gewesen sei, vor der Stadt ins Meer versenkt. Ich war irritiert und fragte mich, was ich an aktuellen Nachrichten verpasst hatte. Auf Nachfragen hin stellte sich heraus, dass von Ereignissen während der sogenannten Kartoffelpest mit der „großen Hungersnot“ in den Jahren 1845 bis 1849 die Rede war. Heutige Menschen erzählten von den Geschehnissen so, als seien sie gerade passiert.

Die Vergangenheit in der Gegenwart

In diesen emotional aufgeladenen Gesprächen wurde mir deutlich: Uralte Geschichten sind in das kollektive Gedächtnis und in das Erzählgut der Menschen übergegangen und werden von Generation zu Generation mit großer Intensität weitergegeben. Sie prägen ihr Bewusstsein heute, beeinflussen das Denken und Handeln. Sie wirken auf die Beurteilung anderer Menschen, Gruppen, Völker und Nationen ein. Sie erhalten und pflegen aber auch Sichtweisen und Vorurteile. Das bedeutet, dass die Erziehung des einzelnen Menschen lange vor seiner Geburt beginnt. 

Was für das Bewusstsein und Selbstbewusstsein der Menschen allgemein gilt, entfaltet ebenso seine Wirksamkeit in den Religionen und Kirchen. Betrachtet man beispielsweise die 500 Jahre dauernde Kirchenspaltung zwischen katholischer und evangelischer Kirche, wird deutlich, wie Urteile und Vorurteile über Jahrhunderte wirken. …

Hubertus Brantzen

Prof. Dr. Pastoraltheologe, Mainz.

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