0261.604090

Wahrheit für sich – Wahrheit für mich

Wahrheit für sich – Wahrheit für mich

Konfigurationen zwischen Konstrukt und Zeugnis

von Lothar Penners

Erste Figur: Wahrnehmung von Bezugsgrößen

Die Suche nach Wahrheit angesichts von Skepsis kann früh beginnen, und das möglicherweise gerade bei Personen innerhalb des kirchlichen Raumes! Betrachten wir das Thema, wie es uns in den Passionserzählungen entgegen kommt. Vielleicht habe sie sich beim Verlesen der Passionsgeschichte einmal existentiell betroffen gefühlt von der Frage des Pilatus, was denn „Wahrheit“ sei. Vielleicht fiel es ihnen aber bisher in der Regel eher leicht, sich unerschütterlich an der Seite des messianischen Angeklagten zu wissen, dadurch dass sie den Opportunismus des Römers durchschauten. Mit jeder inneren Ausrichtung nach einer dieser beiden Bezugspersonen wird die Suche nach Wahrheit sicher nicht am Ende sein, erst recht wenn, wie es sich heute oft ereignet, bislang unhinterfragt Religiöses sich allzu selbstverständlich im Windschatten der Integrität Jesu fährt, wie es beispielsweise „die“ Kirche tut.
Bei der Suche nach Wahrheit handelt es sich nämlich immer wieder neu um Vorgänge, in etwa vergleichbar mit der Ablösung Pubertierender vom unangefochtenen Elternbild. B. Welte spricht im Blick auf die Entfaltung von Kritikfähigkeit von einer „Schwebe der Kindschaft“ und einer sich auf Dauer einstellenden Spannung zwischen Idealität (Unendlichkeit) und Realität (Endlichkeit) in der Wahrnehmung von Bezugsgrößen.

Eine zweite „Figur“: Sich (scheinbar) wandelnde Wahrheit

Im Pro und Contra der damaligen Auseinandersetzungen im Vorfeld von „Wende“ und deutscher Vereinigung, der „Ost-Politik“, ging es unter anderem um ein Votum Willy Brandts: „Es gibt nicht schlechthin die Wahrheit, sondern es gibt nur je verschiedene Wahrheiten.“
Unbeschadet aller grundsätzlichen Problematik von Pluralität und Perspektivität in Wahrnehmungsprozessen stand die Entscheidung an: Darf und kann „Deutschland“ in der Frage seiner Vereinigung mit dem Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen argumentieren und doch die Oder/Neiße-Grenze anerkennen, welche evidenterweise ohne jedes völkerrechtliche Votum zustande kam. Alles Zögern führte offenbar nicht an einer immer stärker mehrheitlichen Beurteilung vorbei. Demgegenüber bleibt festzuhalten: Es gibt keine Normativität des Faktischen, wohl hingegen möglichen Rechtsverzicht um einer dann möglichen Friedensordnung willen.

Eine dritte „Figur“: Wahrheit im Konsens

Das kann überleiten zu einer weiteren Wahrheits-“figur“: „wahr“ ist, was konsensfähig ist. Diese Option von Wahrheitsfigur hat sich gerade angesichts gesellschaftlicher Meinungsbildung immer mehr etabliert und den „klassischen“ Ansatz bei der Korrespondenz, der Entsprechung von „Urteil“ und „Sache“, ergänzt … und abgelöst (?). Das muss nicht heißen Wahrheit sei abhängig von Mehrheitsentscheidungen. Es soll aber heißen, dass Wahrheit Plausibilität gewinnen kann gerade auch aus der vorherrschenden Option in einer sozialen Konstellation. Natürlich kann „Konsens“ nicht einfach absehen von Qualität in der Urteilsbildung. Aber diese Qualität kann sich prozesshaft ereignen. Man weiß zum Beispiel, dass sich Thomas Mann nur zögernd zur Demokratie als Staatsform durchgerungen hat, das aber nicht zuletzt in der Hoffnung, dass politische Reife wachsen kann.
Letztlich geht es aber in der Realisierung von Geltung nicht ohne ein Zusammen von „Konsens“ und „Sache“. Orte von Realisierung sind dann z.B. der Leitungsstil von Verantwortlichen und der Lebensstil von Gruppenmehrheiten.

Ein gemeinsamer Einwurf von Heidegger und Aquin: Wahrheit als Selbstwerdung

Eine weitere Dimension auf der Suche nach Wahrheit scheint nicht unerheblich, nämlich die „Groß-Wetterlage“ in den Blick zu nehmen. Offensichtlich gab es „Epochen“, welche sich der „Wahrheit für sich“ näher wussten als andere. In dieses Urteil schließe ausdrücklich ich die Frage mit ein, ob nicht die Dominante eines überstarken „Wahrheit für mich“ bereits in einem Verabschiedungsprozess begriffen sein könnte – etwa im dialogisch-geschichtlichen Denken.
Blicken wir auf Martin Heidegger. Seine Aussage „Das Sein ist es selbst“ meint mehr als orakelhafte Tiefsinnigkeit. Sie meint vielmehr, dass jedwedes Verstehen von Wirklichkeit (im Ganzen!) weder fest- noch herstellbar sei und es könne deswegen auch nicht erzwungen werden durch wie immer geartete Vereinnahmungen bzw. vom „Willen zur Macht“ (Nietzsche). Phänomene der Vereinnahmung bzw. der „Wille zur Macht!“ gehören zur Großwetterlage der Neuzeit, in der die Option „Wahrheit für mich“ vorherrscht, mitunter um jeden Preis!
Für Thomas von Aquin gilt in ähnlicher Weise: „Sein“ kann nicht „definiert“, sondern nur empfangend verstanden werden: Seinsverstehen hat, so könnten wir sagen, eine marianische Modalität. Hören wir einiger Lyrik zu: „Während wir uns schlugen auf den Wegen, Wort um Worte rührten/ während wir dem Sinn entgegen/ uns durch wache Wildnis trugen … / fiel auf eine Rose vieler Regen“, heißt es bei K. Weiss. Oder: „Kummerlos steht die im Hoffen unerschrocken Rose offen“.
Thomas von Aquin und Martin Heidegger zufolge geht es also im existentiellen Ringen um Wahrheit um hoffendes Selbstwerden im Begegnungsraum geschichtlich-sozialer Konstellationen des Daseins.

Vierte „Figur“: Wachstum stiftende Wahrheit

Dies lässt eine weitere „Figur“ von Wahrheit sehen, die existentielles Wachstum stiftende Wahrheit. In diesem Sinn verstehe ich die bei J. Kentenich sich findende Unterscheidung von funktioneller und ontologischer Wahrheit: Die Ermutigung „Das schaffst Du schon“ ist eine pädagogische Fiktion. Sie stellt nicht fest, sie ermöglicht! Sie ereignet sich in kreativer Lebensübertragung, in geschenktem und empfangenem Vertrauen. Dieses Art von Funktionalität gibt es freilich nicht nur in der Sprach- und Beziehungsebene des Menschlichen, sondern vor allem im weiten Raum von Erfahrung und Experiment, von Erscheinungs- und Verhaltensweisen, im Bereich der Ding-Welt und ihrer technischen Erprobung.
Das Zeugnis Jesu
Nach diesem Versuch eines recht summarischen Rundblicks kann es sich nahelegen, zum Auftakt dieser Überlegung zurückzubiegen, zur Gestalt Jesu. Wenn er von sich sagt „Ich bin die Wahrheit“ (Joh 14,6), dann ist das Subjektwerdung und Relativierung in einem. Er will nämlich nichts anderes sein als Ausdruck und Bild des Vaters. „Wahrheit“ ist für ihn Zeugnis bis in die letzte Faser seines Daseins für die je größere Wahrheit eines Beziehung stiftenden Ursprungs, der sich dialogisch und prozesshaft mitteilt: „Der Sohn kann nichts aus sich selbst tun, außer, was er den Vater tun sieht … [und:] der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er selber tut“ (Joh 5,10ff).

Weiterführende Literaturhinweise:
B. Welte, Im Spielfeld von Endlichkeit und Unendlichkeit. Gedanken zur Deutung des menschlichen Daseins. Frankfurt 1967; L. B. Puntel, Wahrhheitstheorien in der neueren Philosophie, Darmstadt 1978; G. Siewerth, Das Sein und die Abstraktion nach der Lehre des Thomas von Aquin, Salzburg 1958; F. Collin, Konstruktivismus für Einsteiger, Stuttgart 2008; H. v. Balthasar, Theologik II. Wahrheit Gottes, Einsiedeln, 1983.

 

Lothar Penners

Dr. theol., Schönstattpater, bis 2014 Bewegungsleiter der deutschen Schönstatt-Bewegung, gehört zum Initiativkreis „Miteinander für Europa“.

Download basis → Shop


Foto: © franz12 · stock.adobe.com