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Warum kommt Gott in die Welt?

Warum kommt Gott in die Welt?

von Manfred Gerwing

Die Frage, warum Gott in die Welt kommt, gehört zu den spannendsten Fragen der Menschheitsgeschichte. Ihre Beantwortung wirft helles Licht auf jene Wirklichkeit, deren Verständnis in der Frage selbst vorausgesetzt wird: auf Gott. Doch wer ist Gott? Welche Wirklichkeit meinen wir, wenn wir „Gott“ sagen? 

Die Frage nach Gott sucht Anselm von Canterbury († 1109), einer der bedeutendsten Theologen des Abendlandes, dergestalt zu beantworten, dass, wie er formuliert, „Christen, Juden und Heiden“ der gegebenen Antwort zustimmen können: Gott ist jene Wirklichkeit, „worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“. Ja, mehr noch: Gott ist jene Wirklichkeit, „die größer ist als all unser Denken“ (Prosl. 2 und 15). 

Eine Wirklichkeit, die menschliches Denken übersteigt

Das bedeutet aber: Gott ist eine Wirklichkeit, die menschliches Denken schlichtweg übersteigt, eine Wirklichkeit, die angemessen von Menschen gar nicht gedacht werden kann, eine Wirklichkeit, die nicht unter unsere Begriffe fällt, ja überhaupt nicht unter einem Begriff zu fassen ist. Die Schwierigkeit, von Gott zu reden, ergibt sich aus jener Wirklichkeit selbst, die wir Gott nennen. Diese Wirklichkeit ist nicht die Wirklichkeit der Welt, schon gar nicht eine Teilwirklichkeit innerhalb der Weltordnung. Es gibt keinen „Teil“, kein „Stück“ Gottes. Gott ist unteilbar, ein einziger und ganz und gar einfach, singulari (Vat. I.: Dei Filius, DH 3000). 

Wie können wir aber dann überhaupt Kenntnis von Gott haben? Wenn er sich von der Welt unterscheidet, wenn er nicht mit der Welt und mit nichts in der Welt verwechselt werden darf (was Götzendienst wäre), wenn er kein „Stück“ Welt darstellt und überhaupt „in unzugänglichem Licht“ (1 Tim 6,16) wohnt? Woher wissen wir dann nicht nur, dass dieser Gott ist, sondern in gewisser Weise auch, wie dieser Gott ist? Die Antwort liefert der Glaube, genauer: Die Antwort ist der Glaube, ein Glaube freilich, der nach Vernunft verlangt. Wir können denken ohne zu glauben, aber wir können nicht glauben, wenigstens nicht christlich glauben, ohne zu denken. 

Der Glaube aber kommt vom Hören, vom Hören auf das Wort Gottes (vgl. Röm 10,17). Es sagt uns: Wir haben Gemeinschaft mit Gott. Und in dieser Gemeinschaft mit Gott besteht unser Heil. Ein solches Wort aber ist nur glaubwürdig, wenn es selbst Wort Gottes ist. Nur Gott selbst kann uns seine Gemeinschaft mitteilen; und zwar im mitmenschlichen Wort. Zum Glauben kommen wir nur durch andere Menschen. Glauben ist ein kommunikatives Geschehen, das letztlich auf Jesus von Nazareth zurückgeht. Er selbst ist das lebendige Wort Gottes und der Ursprung des Glaubens. Denn niemand anders als Gott selbst kann uns mitteilen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, eine Gemeinschaft, auf der man sich im Leben und Sterben verlassen kann, eine Gemeinschaft, die stärker ist als der Tod. 

Gott, der liebe Vater

Das Wort Gottes ist in Jesus von Nazareth Mensch geworden (vgl. Joh 1,14). Jesus hat uns Gott gebracht. Er sprach Gott mit „Abba“ an, lieber Vater. Er vertraute ihm ganz und verkündete das Reich Gottes. Er forderte die Menschen zur Umkehr auf und dazu, in seine einmalige Gottesbeziehung zu treten. An Jesus als den Sohn Gottes zu glauben bedeutet: sich und die ganze Welt aufgrund seines Wortes von vornherein in die ewige Liebe des Vaters zum Sohn aufgenommen zu wissen, die der Heilige Geist ist (vgl. Kol 1,16). 

Die Botschaft Jesu ist neu. Das Neue dieser Botschaft kommt z.B. in Joh 1,29 und in jeder Heiligen Messe zu Wort. Jesus wird als „Lamm Gottes“ bezeichnet, das die „Sünde der Welt hinwegnimmt“. Die jüdischen Zeitgenossen Jesu wussten: Lamm, das ist nicht irgendein Tier wie Katze und Hund. Lamm, das ist ein Opfertier. Jede jüdische Familie opferte jedes Jahr ein Lamm, um sich mit Gott zu versöhnen. Im Tempel zu Jerusalem floss das Blut in Strömen. Täglich wurden Gott Lämmer als Opfer dargebracht, um die Sünden des Volkes zu sühnen. Man war davon überzeugt: Gott will solche Blutopfer. Ohne solche Opfer könne es keine Gemeinschaft mit Gott, könne es kein Heil geben. 

Jesu Jünger aber haben verstanden: Wir können uns mit Gott gar nicht versöhnen. Wie soll denn auch das Blut von Lämmern unsere Sünden hinwegnehmen? Der Mensch hat es überhaupt nicht in der Hand, ob Gott sich mit ihm versöhnt, ob er ihm seine Gemeinschaft schenkt. Alle Religion ist vergebens, zumindest, wenn sie verstanden wird als der immer wieder neue Versuch des Menschen, Gott durch eigene Leistung zu versöhnen. Gottes Gnade und Segen können nicht dadurch erlangt werden, dass die Menschen Gott etwas schenken, schon gar nicht Lämmer, weil sie so unschuldig aussehen. Nein, seit Jesus von Nazareth wissen wir: 

Gott liebt mich; und zwar nicht deswegen, weil und sofern ich gut bin, sondern weil er gut ist. Ich muss mir meine Daseinsberechtigung nicht erarbeiten. Sie wird mir von Gott geschenkt. Er nimmt mich auf in seine Liebe, in die Liebe des Vaters zum Sohn, die nicht mehr zu toppen ist. Diese Liebe gilt es anzunehmen und aus dieser Liebe heraus zu leben. Sie führt zur Freiheit der Kinder Gottes. So ist das unterscheidend Christliche der Erlösungsglaube. Ich bin durch Jesus Christus erlöst vom Zwang der Selbsterlösung, der jeder bloß natürlichen Religion innewohnt. Jesus hat uns erlöst von der Religion – und befreit zum Glauben. Neue Schläuche für den neuen Wein (vgl. Mt 9,17)! 

Gott selbst ergreift die Initiative

Warum also kommt Gott in die Welt? Gott kommt in die Welt, um uns seine Gemeinschaft zu schenken. Er will uns wahrnehmen lassen, dass wir aufgenommen sind in seine dreifaltige Liebe, die er selbst ist (vgl. 1 Joh 4,8.16). 

Gott selbst ergreift die Initiative. Er hat seinen Sohn gesandt, damit wir Kinder Gottes werden. Deshalb ist er, Jesus, das Lamm, dieses einzige und wahre Lamm, das Gott und Mensch versöhnt. Denn der Sohn Gottes wurde Mensch, in allem uns gleich – und doch unschuldig wie ein Lamm –, um uns in seine Gottesbeziehung aufzunehmen. Der menschgewordene Sohn ist der einzige, der ohne Sünde ist, der einzige, der schon immer mit Gott versöhnt ist. Deshalb ist er der Eine, der uns mit Gott versöhnen kann. 

Wir wissen: Das alles ist nicht unblutig abgelaufen. Das Lamm Gottes kam in die Welt, in die Welt knallharter Realität und Rivalität, in die Welt voller reißender Wölfe. Seine Liebe provozierte die Mächtigen und stieß auf die Bosheit vieler. Doch Jesus wusste sich von seinem Vater im Himmel geliebt und lebte aus dieser Liebe zum Vater. Sie machte ihn stark, auf die Menschen zuzugehen und ihnen die Gemeinschaft mit Gott anzubieten und so ein Zusammenleben zu initiieren, das auf Liebe und nicht auf Egoismus aufgebaut ist. 

Wer aus der Gemeinschaft mit Gott lebt, wer an Jesus als den Christus glaubt, verlässt sich auf nichts mehr in der Welt, sondern allein auf Gott als ihren Schöpfer. Dadurch wird die Welt einem nicht gleichgültig. Im Gegenteil: Sie wird kostbar. Sie gewinnt erst in ihrem Bezug zum Vater- und Schöpfergott ihre wahre Bedeutung. Die Welt insgesamt und alles in der Welt wird so zu einem Gleichnis der Gemeinschaft mit Gott, der sie hält, erhält und zur Vollendung führt. Ihre Vergänglichkeit vermag dagegen keinen Einwand mehr zu erheben. Gott kommt in die Welt, um uns von der Angst um uns selbst zu befreien, einer Angst, die uns immer wieder daran hindert, wahrhaft menschlich zu leben. Es wäre unmenschlich, dieses Wort Gottes, das in die Welt kam, nicht weiterzugeben. Es befreit den Menschen zu sittlichem Handeln in der Selbstlosigkeit der Hingabe für andere. 

 

Manfred Gerwing

Professor Dr., Lehrstuhlinhaber für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Mitglied des Schönstatt Familienbundes Deutschland. Papst Franziskus verlieh ihm 2019 den Gregorius-Orden.

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