Weniger ist mehr
Zur Psychologie des Minimalismus
von Klaus Glas
Kürzlich hatte ich Gelegenheit, Elektroautos zu bestaunen, die sich Verwandte und Bekannte zugelegt hatten. Ein Nachbar kutschiert mit einem französischen Stadt-Stromer durch die Straßen, ein Band-Kollege erfreut sich an einem schicken E-Tech-Kompaktwagen und meine Schwägerin fährt einen coolen elektrischen Kleinwagen aus Bayern. Meine Frau und ich überlegten, ob wir unseren Verbrenner verkaufen und ein E-Auto erwerben sollten. Nachdem die Begehrlichkeit geweckt war, recherchierte ich, ob dem Lustkauf etwas entgegen stehen könnte – und wurde fündig. Wir hatten bei unseren Recherchen den ökologischen Rucksack übersehen. Darunter versteht man jene Menge an Ressourcen, die bei der Herstellung und der späteren Entsorgung eines Fahrzeuges verbraucht werden. Hans-Werner Sinn, Wirtschaftswissenschaftler und emeritierter Präsident des ifo Instituts, hatte mit Kollegen festgestellt, dass der CO2-Rucksack so groß ist, dass ein E-Auto erst nach einer Laufzeit von 219.000 Kilometern ökologisch besser dasteht als ein VW Golf, der mit Diesel fährt (Stand: September 2019).
Macht Materialismus glücklich?
Diese Frage kann man klar mit nein beantworten. Forscher befragten 12.000 angehende Studierende zu ihren Einstellungen zum Leben. 19 Jahre später untersuchte man die im Berufsleben stehenden Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmer erneut. Das Ergebnis: Wer als 18-jähriger Student Geldverdienen als oberstes Ziel angegeben hatte, war im Alter von 37 Jahren weniger glücklich als ein Kollege, dem die Kohle als Kommilitone weniger wichtig war. Zudem litten materialistisch orientierte Personen mehr unter psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen und stressbedingten Beschwerden. Die Tendenz, Dingen anzuhängen, entwickelt sich früh im Leben. So neigen Grundschüler, die sich sozial ausgegrenzt fühlen, dazu, mehr haben zu wollen: teure Marken-Turnschuhe und/oder die neueste PlayStation. Interessanterweise haben 10-Jährige im habituellen Haben-Modus schlechtere Noten als jene Kids, denen es nicht so wichtig ist, ein stylisches iPhone im Schulranzen mit sich zu führen.
Bei einer Befragung von 800 Reichen mit einem Privatvermögen von mehr als zehn Millionen US-Dollar gab die Hälfte an, der Wohlstand habe sie nicht glücklicher gemacht. Ein Drittel der Befragten erklärte gar, Geld löse keine Probleme, sondern schaffe erst welche. Der US-amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright (1867 – 1959), dessen organische Architektur dem Prinzip „Einfachheit und Ruhe“ folgt, brachte das Lebensgefühl der Reichen auf den Punkt: „Viele reiche Leute sind kaum mehr als die Hausverwalter ihrer Besitztümer.“
Die britische Psychologin Helga Dittmar führte mit ihrem Team 2014 eine Metaanalyse durch; sie wertete mehr als 150 Studien zum Thema Materialismus aus. Das Ergebnis: unabhängig vom Geschlecht, dem Lebensalter sowie der Kultur und dem jeweiligen Wirtschaftssystem hat das Streben nach Hab und Gut einen negativen Einfluss auf das persönliche Wohlbefinden. Die Psychologin und Glücksforscherin Sonja Lyubomirsky erklärt die Befunde so: „Vermutlich lenkt uns der Materialismus von sinn- und freudvolleren Aspekten des Lebens ab, etwa von der Pflege der Beziehungen zu Freunden und Familie, die Freude am Hier und Jetzt oder der Bemühung um einen sinnvollen Beitrag zur Gemeinschaft.“
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