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Wenn die Lüge zum Faktum wird

Wenn die Lüge zum Faktum wird

Der schwere Stand der Wahrheit im Zeitalter der „alternativen Fakten“

von Markus Hauck

In den vergangenen Jahren hat sich ein beunruhigender Trend entwickelt: Die Grundlagen der Wahrheit und der objektiven Realität werden zunehmend infrage gestellt. Das Zeitalter der „alternativen Fakten“ hat sich etabliert. Akteure aus vielen gesellschaftlichen Bereichen nutzen gezielt Lügen, um ihre Macht zu erhalten und zu sichern. Es ist, als ob wir uns plötzlich in einem Paralleluniversum befinden, in dem die Wahrheit eine optionale Beilage zum Hauptgericht der Rhetorik geworden ist. So mancher lässt sie lieber weg, der „guten Figur“ wegen. 

Die Politik ist ein Bereich, in dem die Verzerrung der Wahrheit besonders ausgeprägt ist. Es ist fast so, als hätten Politiker eine geheime Zauberkiste, aus der sie bei Bedarf „alternative Fakten“ hervorzaubern können. „Sie haben da draußen Millionen von Menschen, die bei meiner Amtseinführung waren“, sagte der ehemalige US-Präsident Donald Trump. Drohnenfotos zeigten jedoch, dass auf den Straßen Washingtons weitaus weniger Menschen zugegen waren als beispielsweise bei der Amtseinführung seines Vorgängers Barack Obama. Nun ja, entweder hat Trump in gleicher Weise gezählt wie bei den vermeintlichen Milliarden, die seine Unternehmen abwerfen sollen, oder sein Verstand wurde von einem magischen Nebel der Verklärung umhüllt. 

Gelogen war die Aussage Trumps nach den Worten seiner damaligen Pressesprecherin jedenfalls nicht. Sie prägte das bis heute geflügelte Wort der „alternativen Fakten“. Laut Datenbank der Washington Post hat Trump in seiner Amtszeit mehr als 22.000 irreführende oder falsche Behauptungen verbreitet. Einige davon wurden auch durch Trumps gebetsmühlenartige Wiederholungen nicht wahrer: Mehr als 260 mal versprach er, die Mauer zu Mexiko sei bald fertig. Fast 200 mal erklärte er, das US-Militär komplett neu strukturiert zu haben. Auch das laut Faktencheckern nachweislich nicht richtig. Über 400 mal sagte Trump, er habe die erfolgreichste Wirtschaft der Geschichte geschaffen. Eine Faktenbasis für diese Behauptung lässt sich nicht finden. 

Verbreitung von Desinformation

Besonders schnell finden solche „alternativen Fakten“ in den sozialen Medien Verbreitung durch Menschen, denen die jeweiligen Aussagen in ihr Weltbild passen. Es ist wie bei einem riesigen „Stille Post“-Spiel. Im Internet springt die vermeintliche Wahrheit von Meme zu Meme und wird dabei zunehmend verzerrt. Auf fruchtbaren Boden fallen am Ende auch die krudesten Theorien. Nicht wenige Leute glauben ernsthaft, dass die Erde flach ist und dass Echsenmenschen die Welt regieren. Wer regelmäßig auf YouTube, X (vormals Twitter), Facebook oder anderen sozialen Medien unterwegs ist, weiß: Sie alle sind neben ihrem vielfältigen Nutzwert auch eine wahre Schatzkammer für Verschwörungstheorien aller Art. 

In Deutschland ist es vor allem eine Partei, die in den sozialen Medien präsent ist wie keine andere: die AfD. Was die Mitgliederzahlen angeht, ist sie eher eine Randerscheinung. Wenn es aber darum geht, irgendwelche Themen für populistische Stimmungsmache zu nutzen, ist diese Partei führend. Zu Beginn der Coronapandemie im März 2020 schrieb die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel beispielsweise, dass Länder wie Dänemark, Tschechien oder Italien das öffentliche Leben praktisch einstellten. „Nur in Deutschland kann sich Covid19 ungehindert ausbreiten. Das wird fatale Folgen haben! Die Regierung muss jetzt endlich angemessene Schritte einleiten!“

Heute scheint sie von ihren damaligen Forderungen nichts mehr zu wissen. „Die Corona-Politik atmete den Geist der Unfreiheit. Die Regierenden wussten, ihre verfassungswidrigen Maßnahmen sind unverhältnismäßig. Warum wurden sie dennoch ergriffen? Die Aufarbeitung des Unrechts und politische Konsequenzen sind unabdingbar“, schrieb Weidel auf dem Kurznachrichtendienst X Ende März 2024. 

Gut möglich, dass aus heutiger Sicht nicht alle Maßnahmen während der Coronapandemie sinnvoll und effektiv waren. Eine Demokratie wie die Bundesrepublik muss darüber reden können und Konsequenzen für die Zukunft ziehen. Gleichzeitig gibt es in dieser Demokratie aber eine Partei, in der der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland davon gesprochen hat, die Zeit der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten mit dem organisierten Mord an rund sechs Millionen Juden sei lediglich ein „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“. Wenig verwunderlich, dass die deutsche Bischofskonferenz erst kürzlich erklärt hat, dass sie die AfD als nicht wählbar einordnet.

Der Angriff auf die Fakten

Nicht nur die politische Kultur in den meisten Ländern dieser Welt, sondern auch die Wissenschaft steht vor einer großen Herausforderung, wenn es um „alternative Fakten“ geht. Es ist fast so, als ob jemand die Regel des Universums geändert hätte und nun gilt: „Die Schwerkraft zieht dich nach unten – außer an Dienstagen und an Feiertagen.“ Es ist frustrierend zu sehen, wie anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse diskreditiert werden, als wären sie nur eine weitere Meinung in einem endlosen Ozean der Möglichkeiten. Wünschenswert wäre, wenn die Internetnutzer mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie nach dem perfekten Filter für ihre Fotos auf Instagram suchen, auch nach der Wahrheit strebten.

Populistische Politiker haben ein besonderes Talent dafür, Lügen in einem schillernden Gewand zu präsentieren. Es ist wie ein Zaubertrick, bei dem sie die Aufmerksamkeit auf ihre rechte Hand lenken, während sie mit der linken Hand die Wahrheit aus dem Ärmel schütteln. Der Brexit war ein Paradebeispiel dafür. Es wurde den Menschen im Vereinigten Königreich eine Welt (mindestens) voller Regenbögen und Einhörner versprochen. Das Ergebnis sah, wer hätte es gedacht, anders aus. Stand heute: Leere Supermarktregale und ein britisches Pfund im freien Fall statt Land der (der ach so bösen EU) freien Briten. Und Boris Johnson und andere Protagonisten des Brexits sind scheinbar spurlos von der Oberfläche verschwunden. Ganz nach dem Motto: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.“

Medienkompetenz und gesunder Menschenverstand

Das Zeitalter der „alternativen Fakten“ hat dazu geführt, dass wir in einer Welt leben, in der die Wahrheit dem Anschein nach schwerer zu fassen ist als ein Schatten in der Nacht. Es ist, als ob wir uns in einem riesigen Spiel von „Wahrheit oder Pflicht“ befinden, bei dem die Pflicht darin besteht, nach der Wahrheit zu suchen, während die Lügen uns wie eine Achterbahn der Verwirrung durch die Höhen und Tiefen der politischen Landschaft führen. Es wird Zeit, dass wir uns von den alternativen Fakten verabschieden und uns wieder auf die gute alte Wahrheit besinnen. Medienkompetenz und – soweit vorhanden – gesunder Menschenverstand können dabei helfen. 

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Markus Hauck

Leiter der Pressestelle im Bistum Würzburg, Mitglied der basis-Redaktion.

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