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Wenn eine Begegnung alles verändert

Wenn eine Begegnung alles verändert

von Bernhard Brantzen

Ich gehe gerne durch die Stadt und nehme Menschen und Lebenssituationen und Begegnungen von Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit wahr. Es ist mir eine große Freude, diese Verschiedenheit erleben zu dürfen. Es sind freudige, überschwängliche bis hin zu verliebten Bildern, es sind erschütternde Bilder der Traurigkeit und der Armut, es sind überraschende und unverhoffte Bilder, und viele andere, die mir begegnen. Manchmal bleibe ich stehen, um diese Bilder besser in mich aufnehmen und in mir wirken lassen zu können. Hier und da ergibt sich unverhofft ein Gespräch, wenn ich z. B. eine Familie mit ihren lebendigen Kindern treffe und mich einfach mit den Eltern freue. Oder wenn ich bei Wohnungslosen stehen bleibe, sie grüße und wir miteinander ins Gespräch kommen und ich spüren darf, wie sich ein Mensch wieder aufrichtet und aus dieser kurzen Begegnung Kraft schöpft.

In all diesen Begegnungen wird mir immer wieder deutlich: Ohne Beziehung, ohne Ansprache, ohne Lob oder manchmal auch Mut machenden Hinweis kann kein Mensch leben, verkümmert er innerlich. Die Zahl der Menschen, die innerlich kontaktarm werden und vereinsamen – von Kindern bis im hohen Alter –, steigt seit Jahren, verstärkt durch die Zeit von Corona. 

Begegnung und Beziehung als Voraussetzung einer ganzheitlichen Mensch-Werdung 

Schon Friedrich II. musste im 18. Jahrhundert bei seinen Experimenten zur Suche nach der Ursprache der Menschen die Erfahrung machen: Wurden Babys lediglich gestillt und hatten keine sonstige Zuwendung, waren sie nicht lebensfähig und starben. Jeder Mensch braucht ein Gegenüber, um die Unterschiedlichkeit zu anderen, Anerkennung und Angenommen sein, Ablehnung und Abgrenzungen erfahren und daran innerlich wachsen und eine eigene Identität finden zu können. Nur in der Erfahrung eines menschlichen, annehmenden und liebenden Gegenübers kann man eine Beziehung zu anderen Menschen aufbauen. Letztlich durch diese Erfahrung kann auch eine Beziehung zu einem persönlichen Gott wachsen. 

Die Katholische Soziallehre beschreibt für alle Lebensbereiche diese Sichtweise des Menschen, die sie ableitet von seiner unantastbaren Würde. Diese ergibt sich aus der festen Überzeugung, dass ein Schöpfergott jeden Menschen letztlich selbst in das Leben ruft und mit einer ganz persönlichen Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit ausstattet. Sie geht davon aus, dass deshalb in jedem Menschen Gottes Gesicht selbst zu erkennen ist. Er ist – bevor er irgendetwas geleistet hat – geliebt, so, wie er ist. Erfahren kann er das konkret durch Begegnung und Beziehungen zu anderen Menschen. Begegnung und Beziehung sind die Voraussetzung für eine ganzheitliche Mensch-Werdung.

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Bernhard Brantzen

Sozialarbeiter und kath. Diakon, Schönstätter Diakonen-Gemeinschaft, tätig in unterschiedlichen Bereichen der Caritas, Seelsorge und des Sozialen.

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Beitragsfoto: © Andrii Zastrozhnov · stock.adobe.com