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Wissensflut als pädagogische Herausforderung

Wissensflut als pädagogische Herausforderung 

von Maria Wolff

Bei einigen Persönlichkeiten und Heiligen wird hervorgehoben, dass sie als „Universalgelehrte“ gelten. Beispiele sind etwa die heilige Hildegard von Bingen und der heilige Albert. Es sind Gelehrte mit ungewöhnlich vielseitigen Kenntnissen auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaften. Die heilige Hildegard ist dafür bekannt, dass diese ihre Kenntnisse in einer inneren Gesamtschau der Welt integriert sind. Bekannt ist ihre Kosmos-Vision, die in verschiedenen Bildern zum Ausdruck gebracht wird. So konnte sie theologische Werke, Gedichte und genauso gut  naturwissenschaftlich-medizinische Schriften verfassen. 

Faszinierend dabei scheint mir zu sein, dass es in solchen Persönlichkeiten nicht einfach eine Wissensansammlung von Fakten einzelner Wissensgebiete gibt, die in sich keine inneren Bezüge aufweisen. Vielmehr ist in einem allmählichen Wachstumsprozess ein Gesamtbild des natürlich- übernatürlichen Lebens entstanden, so dass alle Details aufeinander und auf den Schöpfer-Gott hin zugeordnet sind. „Ihre Gedanken zu Ganzheit und Einheit spielten sowohl in ihren religiösen als auch medizinischen Schriften eine große Rolle.“ (Bärbel Tschech: Hildegard-Medizin – Altes Klosterwissen für heute)

Heute dürfte es wohl kaum mehr möglich sein, jemanden als Universalgelehrten zu bezeichnen. Zu ausdifferenziert ist inzwischen das Wissen der Menschheit. Früher war schon mal von sogenannten „Fachidioten“ die Rede, heute sind Spezialisierungen eine unmittelbare, unvermeidbare Folge, die ja auch zu einer großen fachlichen Kompetenz führt. 

Trotzdem stellt sich die Frage, wie für unsere Kinder in dieser „partikularisierten“ Welt eine „Bildung“ möglich ist, die ihre Persönlichkeit von innen her ganzheitlich zur Entfaltung bringt und die nicht zu einem Nebeneinander, zu Abspaltungen, sondern zur reifen Integration all ihrer Lebensaspekte führt. Unsere Kinder sind keine Rechner, die wir programmieren und mit Wissen vollstopfen können. Jeder Mensch ist ein eigenes Geheimnis, und bei allen menschlichen Gesetzmäßigkeiten hat jedes menschliche Geschöpf doch seine ganz eigenen Merkmale mit eigenen Interessensansätzen und seine persönliche Art der Entwicklung, die zur Lebensfülle drängt.

Pater Josef Kentenich spricht im Zusammenhang menschlicher Persönlichkeitsentwicklung von Wachstumsgesetzen. Nach seiner Beobachtung unterliegt jeder Lebensprozess solchen allgemeinen Gesetzen: “Normalerweise sind es ihrer drei. Es handelt sich für gewöhnlich um ein langsames Wachstum, um ein Wachstum von innen heraus und um ein Wachstum aus einer organischen Ganzheit in eine organische Ganzheit.” (Philosophie der Erziehung 1961). 

Erziehung im Sinne einer echten (Wissens-)Bildung bedeutet Reifungsprozess, bei dem gilt: „Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Von innen heraus darf sich Leben und Verstehen langsam entfalten. So warnt er vor Ungeduld; nur langsames Wachsen bringt echte, reife Früchte. Kentenich wehrt sich dagegen, Verhaltensweisen und Wissen „von außen anzupappen“. Was an Fakten auf den Menschen zukommt, soll er in sein gesamtes Leben integrieren können. Dabei hat der einzelne Mensch sein eigenes Tempo und seine eigene Reihenfolge. 

Maria Wolff

Institut der Schönstattfamilien,
Mitglied der basis-Redaktion.

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Beitragsfoto: © Igor Link · stock.adobe.com