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Zauberwort Selbstbestimmung

Wie sich eine Gesellschaft selbst ein Bein stellt

von Hubertus Brantzen

Wenn etwas sehr oft in einer Gesellschaft beschworen wird, hat das nicht selten seinen Grund darin, dass das Beschworene in Gefahr geraten ist, verloren zu gehen. So hören wir – besonders in Zeiten der Corona-Pandemie – in vielen Varianten, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft wichtig sei. Gemeint ist damit, dass die Menschen liebevoll und wertschätzend miteinander umgehen sollen. Keine Gruppe soll aufgrund irgendwelcher Merkmale persönlicher, beruflicher oder ethnischer Art benachteiligt oder gar diskriminiert werden. 

Ein erfreuliches Beispiel, wie das gelingen kann, ist die Reihenfolge der Impfungen im Rahmen der Pandemie. Zwar gibt es Unruhe, dass nicht sofort ausreichend Impfdosen zur Verfügung stehen. Doch dass zuerst die Gefährdetsten geimpft werden sollen, hat keiner ernsthaft in Frage gestellt. Da hätten beispielsweise Jüngere auftrumpfen können, dass man die Pflege der Alten, deren Leben sowieso nur noch begrenzt ist, nicht übertreiben solle. Nein, sie sollen zuerst drankommen. Schließlich sind das unsere Eltern und Großeltern, die in den Familien eine wichtige Rolle spielen, selbst wenn sie manchmal knurrig oder eigenartig werden.

Da gibt es aber auf der anderen Seite jene Unverbesserlichen, die von dem ganzen „Zirkus“ um die Pandemie gar nichts halten. Verschwörungstheoretiker, Corona-Leugner, Alles-Besserwisser und Ihre-Freiheit-Verteidiger sind unterwegs, um sich über die „Clowns“ in der Politik lustig zu machen und in Geheimpartys fleißig Viren auszutauschen. Wie entstehen solche gegensätzlichen Verhaltensweisen nebeneinander in unserer Gesellschaft?

Zwischen Schutz und Anpassung

Ein wesentlicher Grund für dieses gegensätzliche Verhalten und die dahinter stehenden Haltungen ist das, was die Einzelnen im Laufe ihrer Sozialisation gelernt haben. Keiner wird nämlich als reiner Altruist oder als nervender Egoist geboren. Es kommt darauf an, wie die vorhandenen Anlagen und Talente entfaltet und so in Bahnen gelenkt werden, dass jener Zusammenhalt zwischen den Menschen und in der Gesellschaft möglich wird.

Die Familiensoziologie sieht zwei wichtige Funktionen in der Erziehung der Kinder, die in den Familien allerdings verschieden wahrgenommen werden: Schutz und Anpassung. 

Zum einen ist die Familie ein Schutzraum für die nächste Generation, besonders für die kleinen Kinder. Der Druck und die Anforderungen von außen und aus der Gesellschaft dürfen nicht übergroß werden und die Entwicklung der Kinder in Liebe und Geborgenheit gefährden. Diese Schutzfunktion erfüllen Eltern sehr unterschiedlich. Die Palette reicht von den Eltern, die ihre Kinder vor allem bewahren wollen und alles, was ihnen schädlich erscheint, fernhalten, sie abschotten und sie letztlich als „Helikopter-Eltern“ dauernd kontrollieren. Am anderen Ende der Palette stehen die Eltern, die meinen, ihre Kinder müssten gleich zu Beginn den Ernst des Lebens kennenlernen. Sie stoßen die Kinder zu früh aus dem Schutzraum der Familien hinaus. Sie melden ihre Kinder früh in den erwünschten fortbildenden Schulen an und planen die Karriere ihres Sprösslings.

Die andere Aufgabe der Familie und der Erziehung ist es, den Kindern beizustehen in der Anpassung an das Leben in Gruppen und in der Gesellschaft sowie an gesellschaftliche Normen. Auch hier gibt es wieder eine große Vielfalt, wie Eltern und ErzieherInnen dieser Aufgabe nachkommen. Die einen achten panisch darauf, dass ihre Kinder ja nicht auffallen, und dringen darauf, dass sie vor allem „brav“ sind, sich einfügen und parieren. Die anderen propagieren, dass sich ihre Kinder auf keinen Fall etwas gefallen lassen, sondern sich mit allen Mitteln durchzusetzen wissen. Zwischen diesen Extremen gibt es viele Varianten. 

Dass Eltern für den Schutz ihrer Kinder einerseits und die Anpassung für das Leben in Gemeinschaft andererseits sorgen, geschieht in der Regel unbewusst. Eltern reproduzieren selbst erlernte Verhaltensweisen oder wollen den Kindern eigene schlechte Erfahrungen ersparen. In unserem Zusammenhang – im Blick auf den Zusammenhalt in der Gesellschaft – spielen diese Lernprozesse aber eine wichtige Rolle und sollten bewusst angegangen werden. In einem guten Fall praktizieren die Eltern und ErzieherInnen für das Kind eine gute Balance von Schutzmaßnahmen und Anpassungsmöglichkeiten. Das Kind darf sich im Schoß der Familie sicher und geborgen fühlen, weiß dass die Eltern zu ihm stehen. Genauso aber wird es angespornt, sich auf Lern- und damit auch Anpassungsprozesse in der Familie, im Kindergarten, in der Schule usw. einzulassen.

Ein gesellschaftlicher Pendelschlag

Bei vielen Menschen unserer Großeltern- und Urgroßeltern-Generation gehörte es zu den wichtigsten Tugenden und damit Erziehungszielen, brav und gehorsam zu sein sowie Disziplin zu üben – und damit sich vor allem anzupassen. Um das zu erreichen, war es in vielen Familien üblich, auch Gewalt anzuwenden. Man mag sich heute darüber aufregen und den Machtmissbrauch nachträglich ahnden. Doch gilt es, in Ehrlichkeit und Barmherzigkeit anzuerkennen, dass diese Generationen es ihrerseits nicht anders kannten und wussten.

Mit dem Aufstand gegen alle Formen von Autorität in den 1960er Jahren änderte sich die Situation grundlegend. Die Ablehnung der Autoritäten, die festlegten, welche Normen und Verhaltensweisen in der Gesellschaft gelten sollten, ging einher mit einer neuen Selbstbestimmung des Einzelnen. Nicht mehr das, was irgendwer vorgab, sollte Maßstab des Verhaltens sein, sondern das, was der Einzelne für sich wichtig und richtig erkannte und anerkannte.

Der Pendelschlag in diese Richtung der Selbstbestimmung setzte sich in einem entsprechenden Erziehungsstil der jüngeren Generation fort. Wurde in alten Zeiten ein Übermaß an Anpassung angezielt, wurde nun ein Übermaß an Schutz vor den Forderungen der Gesellschaft praktiziert: Mein Kind soll sich selbst entscheiden! Keiner hat meinem Kind etwas vorzuschreiben!

Suchprozesse

Nun könnte man sagen, dass die 1960er Jahre immerhin bereits über 50 Jahre zurückliegen. Doch solche gesellschaftlichen Veränderungen sind nicht mit einer oder zwei Generationen ausgestanden, sondern laufen über lange Zeiträume. Zudem gibt es aufgrund der veränderten Lage oft hilflose Suchprozesse, weil Menschen durch solche Mentalitätswechsel verunsichert werden.

Betrachtet man zum Beispiel die Stürmung des Reichtags in Berlin oder des Capitols in Washington vor wenigen Monaten, scheint das vordergründig ein Aufstand gegen die Autoritäten zu sein. Doch nur scheinbar. Ohne es zu merken, lassen sich Menschen, die mit sich und der Welt aus ganz verschiedenen Gründen unzufrieden sind, vor ideologische Karren spannen oder werden für die persönlichen Interessen Einzelner manipuliert. Das alles aber geschieht in Namen der Meinungsfreiheit und der Selbstbestimmung der Einzelnen.

Selbstbestimmung 

In der Tat ist die Möglichkeit, dass Menschen selbst über ihr Leben bestimmen können und dürfen, ein große Errungenschaft, die keinesfalls aufgegeben werden darf. Sie widerspricht auch überhaupt nicht einem christlichen Menschenbild. Im Gegenteil. Psalm 8 preist Gott: „Du hast ihn (den Menschen) nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.“ Und zu dieser Herrlichkeit und Ehre gehört auch, dass der Mensch über sich selbst bestimmen kann.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Den Menschen gibt es nicht nur als Einzelexemplar, sondern immer zugleich als Mit-Mensch. Und die Menschen, die mit ihm sind und leben, haben die gleiche Herrlichkeit und Ehre. Das aber bedeutet: Die Menschen brauchen Regeln, damit das Mit-Mensch-Sein überhaupt möglich ist. Es braucht die Balance zwischen meiner, deiner und der Selbstbestimmung aller. Als Christen sagen wir zusätzlich: Gott gibt uns keine Gebote und setzt keine Grenzen, um uns die Selbstbestimmung zu nehmen, sondern um das gemeinsame Leben zu ermöglichen und zu fördern. So hat wieder – wie so oft in unserem Leben – alles mit allem zu tun: Erziehung mit dem Schutz und den Grenzen der Kinder; Erziehung mit dem gesellschaftlichen Leben; Autorität mit der Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen; Regeln in Familie und Gesellschaft mit den Protesten auf den Straßen; die Einhaltung von Grenzen mit der Wertschätzung des Lebens, von Anbeginn bis ins hohe Alter.

Wer diese und viele ähnlich Zusammenhänge nicht sehen kann oder nicht sehen möchte, trägt zu einer fragmentierten Gesellschaft bei, in der Selbstbestimmung missverstanden wird: Jeder tut und lässt, was ihm passt, ohne Rücksicht auf den anderen. Will sich eine Gesellschaft nicht selbst ein Bein stellen, steht also ein großes Entwicklungsprojekt an: die Balance zu finden zwischen der Selbstbestimmung vieler Einzelner und dem Zusammenhalt– in den Familien und in Gruppen, in der Gesellschaft, im Miteinander der Staaten – und nicht zuletzt in der Kirche.

Hubertus Brantzen

Prof. Dr., Pastoraltheologe, Mainz.

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