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Zeitenwende

Zeitenwende | Kathedrale ohne Dach mit Blick in den Himmel

Zeitenwende

Ein großes Wort in unruhigen Zeiten

von Hubertus Brantzen

Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in seiner Regierungserklärung nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine von einer „Zeitenwende“ sprach, erweckte er hohe Aufmerksamkeit. Er meinte damit, dass eine neue Einschätzung der weltpolitischen Lage notwendig sei. Das Vertrauen in bestehende Verträge wird relativiert und die Meinung, durch wirtschaftliche Verflechtungen seien Chancen für den Weltfrieden größer, gilt nicht mehr. Im Laufe der Geschichte gibt es, so müssen wir es auch gegenwärtig erleben, immer wieder Menschen, die Macht über Krieg und Frieden haben und sich keinen Deut um Menschenwürde und Völkerrecht scheren. 

Rüdiger von Fritsch erklärt die Welt nach Putins Angriff bereits zwei Monate später in dem Buch „Zeitenwende: Putins Krieg und Folgen“. Er kennt sich aus, denn er war von 2010 bis 2014 deutscher Botschafter in Warschau und von 2014 bis 2019 in Moskau. Andere Autoren schließen sich mit dieser Terminologie an und deuten die Weltsituation.

Die Inflation der „Zeitenwende“

In den ersten Wochen nach der Regierungserklärung im Deutschen Bundestag war der Begriff täglich in allen Medien zu hören. Dann erlebte der Begriff eine regelrechte Inflation. Nicht nur mehr die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik stand auf den Prüfstand. Im Blick auf viele politische und wirtschaftliche Themen wurde plötzlich von einer Zeitenwende gesprochen. So werden etwa die ökologischen Bestrebungen unter dieses Narrativ gestellt: Zeitenwende braucht Energiewende. 

Am deutlichsten zeigt sich die Wende in der Einschätzung der Ausgaben für das Militär. Plötzlich ist es kein Problem mehr, 100 Milliarden Euro als Sondervermögen für die Bundeswehr auszuweisen. Dazu braucht man eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Kein Problem. Die Emotion in der Bevölkerung und bei den Abgeordneten: Wollt ihr, dass es euch ergeht wie den Ukrainern? Nein! Also müssen wir etwas für unsere Verteidigung tun. Zwischen der Ukraine und Deutschland liegt nur Polen, und das gehört eigentlich zum Zarenreich Putins, so dessen Meinung.

Zeitenwenden

Ohne die gegenwärtige politische Lage und die Verbrechen eines Vernichtungskrieges kleinzureden, ohne absehen zu können, welche Folgen der Krieg in der Ukraine langfristig nach sich zieht, zeigt ein Blick in die Geschichte: Diese Wende wird erst noch zeigen, ob sie eine Zeitenwende ist. 

Eine große erd- und menschheitsgeschichtliche Wende war etwa die sogenannte neolithische Revolution vor etwa 12.000 Jahren, die einen Übergang von einer Jäger- und Sammlerkultur zu Ackerbau, Viehzucht und Vorratsspeicherung brachte. Eine Zeitenwende stellte die Entwicklung von Kleingesellschaften hin zu differenzierten Großkulturen in Mesopotamien und Ägypten vor rund 5000 Jahren dar. Als Zeitenwende kann man zu Recht die Entstehung der römischen Reiches nennen, die Ausbreitung des Christentums, die Völkerwanderung, die Reformation, den Dreißigjährigen Krieg, die Französische Revolution, die Industrialisierung, den Kulturschock der beiden Weltkriege und der nationalen und kommunistischen Ideologien, 1989 die Auflösung der kommunistischen Herrschaftssysteme in Europa. 

Mit solchen Zeitenwenden kann man die gegenwärtige Krise bisher noch nicht vergleichen, wenngleich sie in dieser unserer Gegenwart unsäglich bedrückend erfahren wird. Wir werden wohl erst in Jahrzehnten beurteilen können, ob wir tatsächlich eine Zeitenwende erleben. Schaut man auf die etwa 40 großen und kleineren Kriege, die rund um den Erdball toben, dann ist der gegenwärtige in der Ukraine nur einer unter vielen, wenn auch auf der Bühne der Großmächte.

Wenn Olaf Scholz dennoch den Begriff der Zeitenwende verwendet, kann er sich sicher sein, Aufmerksamkeit zu erregen. „Zeitenwende” ist ein Schlagwort, ein Super-Begriff, der zugespitzt auf die Krisensituation aufmerksam macht. Die hohe mediale Wirkung beweist, dass er mit diesem publizistischen „Trick“ einen Volltreffer der Rhetorik gelandet hat.

Die religiöse Zeitenwende

Interessant erscheint in diesem Zusammenhang eine Zeitdiagnose Pater Josef Kentenichs aus dem Jahr 1934. Die Nachwehen des Ersten Weltkrieges sind noch zu spüren, hohe Arbeitslosigkeit macht die Deutschen unzufrieden, einer, der anbietet, alle Probleme mit seiner nationalsozialistischen Ideologie zu lösen, beginnt, ein „tausendjähriges Reich“ aufzubauen.

In diese Situation hinein setzt Pater Josef Kentenich die Worte: „Es ist nicht nur unsere Aufgabe, Altes, Zusammengestürztes wieder aufzubauen, nein, wir stehen vor einem schöpferischen Neubau der gesamten religiösen Kultur. Das müssen wir uns alle immer wieder sagen: Wir stehen an einer Zeitenwende; ein neues Stück Menschheitsgeschichte ist wirklich am Werden.“

Wir dürfen davon ausgehen, dass dieser Prozess des religiösen Zusammenstürzens noch nicht zu Ende gekommen ist. Das Christentum scheint in unserer Gesellschaft in die Knie zu sinken. Weniger als 50 Prozent der Deutschen bekennen sich noch als Christinnen und Christen. Noch immer hat sich Religion nicht von der Politik emanzipiert. Im Zweiten Weltkrieg wurden auf allen Seiten die Waffen und die Soldaten gesegnet. In dem unseligen Krieg in der Ukraine macht sich die orthodoxe Kirche in Russland zum Handlanger des Aggressors. 

Wendezeit

In einer solchen Zeit können die Menschen sich in zwei Richtungen orientieren. Die einen beklagen, dass eine gute, alte Zeit zu Ende geht. Die anderen schauen nach vorn. Das gilt sowohl im Blick auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen, als auch für die Interpretation, wohin der Weg des Christentums und der Religion überhaupt geht.

Die religiöse Zeitenwende beschreibt Pater Kentenich 1949 und richtet den Blick nach vorn:

„Gott ist ein Gott des Lebens … Wo er brechen und zerbrechen, wo er untergehen, wo er sterben lässt, da will er neues Leben schaffen. … So muss das Saatkorn erst sterben. Es muss untergehen, dann bringt es viele Frucht. Legen wir diesen Maßstab an die heutige Zeit an, lassen wir die furchtbaren Trümmer, die schrecklichen Verheerungen auf uns wirken, die uns allenthalben in der physischen, in der moralischen, in der geistigen Ordnung begegnen, so möchten wir den Atem anhalten. Transitus Domini est (Es ist Vorübergang des Herrn). Es muss eine herrliche neue Welt sein, die er aus diesem gewaltigen Sterben erstehen lassen, es muss eine wundersame Ordnung sein, die er aus den Katastrophen und Ruinen neu gestalten will.“

Mit dieser Ansage will Pater Kentenich das Durchleben von Zusammenbrüchen nicht verharmlosen. Er will auch kein frommes Mäntelchen darüber decken.  „Die furchtbaren Trümmer, die schrecklichen Verheerungen“ sind und bleiben das, was sie ausdrücken. Doch gibt es einen Blick nach vorn, eher eine Hoffnung, dass aus Trümmern und Verheerungen Pflanzen neuen Lebens, neue Ordnungen, neue, gereifte Menschen und neue, stabilere Gemeinschaften und Gesellschaften entstehen. Was dann „Bausteine für ein neues Weltbild“ sein werden – so der Untertitel des Buches „Wendezeit“ von Fritjof Capra von 1983 – zeigt sich heute eher in Andeutungen, denn wir sitzen wohl immer noch in einem Zug, der bergab fährt und uns nicht selten Angst macht. Doch mitten in der Talfahrt und der Angst gibt es die Zusage: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20)

Hubertus Brantzen

Prof. Dr. Pastoraltheologe, Mainz.

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