Zur Freiheit berufen
Grundsätzliche Überlegungen zu Grenzen und Chancen
von Elmar Busse
„Es ist besser, in Freiheit zu sterben, als in Unterwerfung zu leben.“ Das ist keine Aussage des Sklaven Spartakus, der nach dem Aufstand gegen die römischen Sklavenhalter in einer Schlacht gegen die römischen Legionen 71 vor Christus starb. Diese Aussage stammt von einer Pakistanerin, die in Österreich als Muslima zum Christentum konvertierte und heute mit falschem Namen unter Polizeischutz in Deutschland lebt und alle paar Monate ihre Wohnung wechseln muss. Auch wenn ihr die Polizisten, die im Opferschutzprogramm tätig sind, ihr immer wieder zu verstehen geben, dass sie mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit ein Albtraum für die Beamten ist, so kann sie doch nicht aufhören, sich für die in Deutschland heute versklavten und misshandelten Frauen einzusetzen und die deutsche Öffentlichkeit auf deren Schicksal aufmerksam zu machen.
Es geht um Sabatina James (ein Pseudonym), die 1982 in Pakistan geboren ist und im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie nach Österreich kam. Ihr Schicksal hat sie in dem Buch „Nur die Wahrheit macht uns frei. Mein Leben zwischen Islam und Christentum“ (Knaur-Taschenbuch, München 2017) beschrieben. Mit ihrem Verein „Sabatina“ möchte sie Frauen den Weg in die Freiheit ermöglichen. Ähnlich prägnant äußerte sich der polnische Aphorismendichter Stanislav Jercy Lec (+1966): „Freiheit ist nur echt, wenn sie mit den Adjektiven ‚teuer erkauft‘ verbunden ist.“
Die Rache-Kette durchbrechen
Freiheit ist ja eines der zentralen Themen der Bibel: Im Höhepunkt des Kirchenjahres, in der Osternacht, erinnern wir uns mit den Juden an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei (Ex 14,15-15,1) Auch Jesus möchte die Menschen aus der Unfreiheit des reinen Reagierens hineinführen in die göttliche Freiheit und Souveränität, wenn er sagt: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,40-48) Jesus meint damit ja nicht: ‚Lass dir immer alles gefallen!‘ Es geht ihm darum, dass die Rache-Kette durchbrochen wird als Ausdruck der menschlichen und göttlichen Freiheit.
Freiheit braucht Entscheidung und Durchsetzung
Paulus schreibt: „Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe! Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Gal 5,13)
Fahrgäste in einer U-Bahn, die beherzt einen angetrunkenen jungen Mann, der eine Mitreisende belästigt, in die Schranken weisen und sich schützend vor die Frau stellen, zeigen eine innere Freiheit, um die sie öfters von Ängstlichen, Schüchternen und Gehemmten beneidet werden.
Frei sein bedeutet, sich entscheiden zu können und
sich durchsetzen zu können.
Nur der Mensch mit diesen beiden Fähigkeiten ist ein freier Mensch.
Pater Josef Kentenich hatte in den Jahren vor seiner Inhaftierung im Konzentrationslager Dachau immer wieder versucht, die Menschen seelisch gegen den immer mächtiger werdenden Nationalsozialismus zu immunisieren. Der Suggestivkraft der großen Zahlen setzte er entgegen: „Der Massenmensch tut, was alle tun, weil alle es tun. – Der freie Mensch tut, was er will, weil er weiß, warum er etwas will.“
Die Entscheidung des Einzelnen
und der Druck der Mehrheit
Allein 1934 hielt Pater Kentenich 35 Priester-Exerzitienkurse in verschiedenen Städten in Deutschland, an denen 2334 Priester teilnahmen. Inhaltlich kreisten die Exerzitien um den erlösten Menschen. Erlöst sein heißt frei sein, heißt, sich ungehindert für das Gute und damit für Gottes Willen entscheiden zu können. Nun ist Gott sei Dank die NS-Diktatur Vergangenheit. Aber der sich damals mit aller Schärfe abzeichnende Konflikt zwischen der Entscheidung des Einzelnen und dem Druck der Mehrheit hat nichts von seiner Aktualität verloren.
Die Soziologin Elisabeth Noelle-Neumann weist in ihrem Buch „Die Schweigespirale“ darauf hin, dass es zu den Überlebensstrategien des Menschen gehört, zu einer siegreichen Mehrheit gehören zu wollen. Wer meint, dass seine Meinung mehrheitsfähig ist, tut sich leichter, diese auch öffentlich zu äußern, was dann tatsächlich auch die Mehrheitsverhältnisse verschieben kann. Es gehört Mut dazu, sich zu einer tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Minderheitenposition zu bekennen.
Die Freiheit, eine Möglichkeit Wirklichkeit
werden zu lassen
Ein weiteres Feld einer Entscheidungsnot ist die Partnerwahl. Dieses Ja zu einem Menschen auf Lebenszeit beinhaltet gleichzeitig 99 mal ein Nein zu anderen Möglichkeiten. Bei Entscheidungen kann mangelnder Mut nicht durch weitere Argumente und mehr Wissen ersetzt werden. Andererseits kenne ich auch ältere Ehepaare, die vor der Hochzeit von argen Zweifeln geplagt worden waren, dann aber nach ihrem Ja eine Lockerheit und Freiheit empfunden haben – verbunden mit dem Gefühl der Sicherheit: Ich habe mich richtig entschieden. Freiheit bedeutet also nicht, dass man sich immer alle Möglichkeiten offen hält, sondern eine der Möglichkeiten Wirklichkeit werden lässt und so sich weiter entwickelt. Sonst gleicht man einem Wanderer, der zwar auf einen Gipfel will, sich aber bei der ersten Wegkreuzung nicht für einen Weg entscheiden kann. Er bleibt an dieser Kreuzung stehen. Es ist das Reizvolle, aber auch das Schwere unserer Zeit, dass wir in einer Multioptionsgesellschaft leben. Das verlangt eine viel intensivere Entscheidungskultur, Mut zum Ja und Mut zum Nein.
Wenn wir heute das Pauluswort hören, „Ihr seid zur Freiheit berufen“, dann klingen ganz andere Dimensionen mit. Wir haben mehr Freiheit. Wir können zwischen viel mehr Möglichkeiten wählen. Ich kenne Eltern, die fragen sich fast jeden Abend bei der Gewissenserforschung: Habe ich heute meinen Kindern die Möglichkeit zu einer Entscheidung gegeben? Habe ich sie befähigt, von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen? Von den engen Entscheidungsräumen bei den Kleinen, zum Beispiel „Willst du Marmelade oder Käse aufs Brot?“, über „Willst du erst Englisch machen und dann Mathe?“ bei den Schulkindern über die Wahl des richtigen Schultyps bis hin zu den Vorgaben über die Zeit des Nachhausekommens werden die Entscheidungsräume der Heranwachsenden immer größer. Damit wächst auch die Fähigkeit, Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zu übernehmen.
Ohne Durchsetzungsfähigkeit geht es nicht
Nur wer in der Lage ist, gegen innere und äußere Widerstände seine einmal getroffene Entscheidung auch durchzusetzen, erlebt sich frei. Jeder gewonnene Kampf macht die Seele stärker. Der Eindruck, gelebt zu werden, nimmt ab, das Gefühl, selber das Leben zu steuern, nimmt zu. „Es lässt sich mehr in meinem Leben ändern, als ich früher geglaubt habe,“ meinte einmal ein Jugendlicher, der über Monate auf diesem Feld seiner Seele an sich gearbeitet hatte.
Einer der häufigsten Widerstände ist die Angst. Deshalb tut es gut, auf Gespenster zuzugehen und nicht vor ihnen wegzulaufen, denn sonst werden sie während der Flucht größer: ob beim Lampenfieber als Lektor in einer vollen Kirche, als Dirigent vor einer Orchestermesse oder als Diakon vor der ersten Predigt – die Angst wird nicht kleiner, wenn man vor ihr davon läuft.
Die Hauptarbeit muss Gott wirken
Ein weiterer häufiger Widerstand ist die Bequemlichkeit. Doch je mehr man trainiert, desto besser wird die Kondition. Pater Kentenich schrieb 1951: „Das damit gezeichnete Ideal (des neuen Menschen) ist ewig alt und ewig neu. Ewig alt, weil alle Jahrhunderte danach gerungen; ewig neu, weil die erbsündlich belastete Natur immer Abstriche macht und sich in bürgerlicher Sattheit ausruhen und mit nivellierender Mittelmäßigkeit zufriedengeben möchte. Der hier gemeinte »neue Mensch« ist der geistbeseelte und idealgebundene Mensch, fern von aller Formversklavung und Formlosigkeit.“ Was ich eben mit Bequemlichkeit umschrieben habe, nennt er „sich ausruhen in bürgerlicher Sattheit und sich zufrieden geben mit nivellierender Mittelmäßigkeit“. Als Ursache für diese Neigung nennt er die erbsündlich belastete Natur. Damit wird aber auch deutlich, dass der Mensch das Seine dazu beitragen kann, dass Erlösung bei ihm ankommt. Wachsende Erlösung wird spürbar an wachsender innerer Freiheit.
Aber die Hauptarbeit muss Gott selber wirken. Seine erlösende Liebe wirkt befreiend. Wer sich barmherzig geliebt erlebt, kann seine Masken ablegen und in Freiheit sich in seiner Erbarmungswürdigkeit anschauen lassen.
Foto: © Hurca! · stock.adobe.com