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Zwischen festen Glaubenssätzen und neuen Erkenntnissen

Zwischen festen Glaubenssätzen und neuen Erkenntnissen

Wie der Konstruktivismus unser Leben prägt

von Katrin Keller

Jeden Tag stehen unsere Glaubenssätze und neue Erkenntnisse in einem Widerstreit. Der sogenannte Konstruktivismus hilft uns, unsere eigene Wirklichkeit zu schaffen – wenn auch nicht immer ganz ohne Spannungen.

Was heißt Konstruktivismus? 

Konstruktivismus wird unter anderem verstanden als Erkenntnistheorie, die sich mit der Frage beschäftigt, wie wir zu unseren Erkenntnissen bzw. zu unserem Wissen kommen. Er geht davon aus, dass gewisse Zweifel an dem Glauben angebracht sind, dass Wissen und Wirklichkeit übereinstimmen. 

Der Konstruktivismus fordert, dass Wissen nicht Ergebnis eines Abbildes im Sinn eines Entdeckens von objektiv vorliegender Wirklichkeit ist, sondern das Ergebnis eines Erfindens der (eigenen) Wirklichkeit. Das menschliche Gehirn erzeugt somit kein fotografisches Abbild von Wirklichkeit, sondern es schafft mithilfe von Sinneswahrnehmungen eine eigene Wirklichkeit der Welt. Wahr ist, was jeder wahr-nimmt. Der Konstruktivismus selbst verleugnet die Wirklichkeit nicht. Er behauptet alleine, dass die Aussagen über die Wirklichkeit dem eigenen Erleben, der eigenen Geschichte, der eigenen Entwicklung, der eigenen Sozialisation und den eigenen (vermutlich eher beschränkten) physischen Möglichkeiten der Wahrnehmung entspringen. Aufgabe des Konstruktivismus ist es deshalb zu zeigen, wie Wirklichkeitskonstruktionen gemacht werden. (vgl. Feess, E., gefunden https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/konstruktivismus-37530, August 2020)

Was heißt Glaubenssatz?

Bevor im nächsten Schritt auf den prozessualen Weg zwischen neuen Erkenntnissen und Glaubenssätzen eingegangen werden kann – wird noch ein theoretischer Rahmen zu „Glaubenssatz“ erläutert. Zusammengesetzt aus den Wörtern „Glaube“ und „Satz“, bezeichnet die Wortschöpfung in erster Linie eine Grundhaltung bzw. das Vertrauen in etwas oder jemanden, und wird dabei oftmals im Kontext religiöser Überzeugungen verwendet. Der Glaube, der oft nicht auf nachweisbaren Tatsachen fußt, verdeutlicht, wie einschneidend dieser sein muss. Zum anderen beschreibt ein „Satz“ im Generellen eine aus Wörtern geschlossene bzw. sprachliche Einheit. Synonym zur Begriffsbedeutung „Glaubenssatz“ finden sich in der Literatur auch Begriffe wie Dogma, Grundannahme, Prinzip, Grundlegende Überzeugung, Axiom, Paradigma, Mind-Set, Grundwert, Haltung oder Kognitives Muster. 

Dass das zu Spannungen zwischen den eigenen Glaubenssätzen führt, scheint nachvollziehbar und ist fast schon zu erwarten. Doch wie entstehen aus diesen ständigen Spannungen fruchtbare neue Erkenntnisse und damit auch die Erweiterung der eigenen Wahrnehmung?

Glaubenssätze geben uns Halt und ein Gefühl von Sicherheit. Sie sind für viele von uns Menschen wie ein Ordnungssystem, an dem sich orientiert werden kann und darf und das vor Enttäuschungen schützt. Durchaus können diese Überzeugungen aber auch dazu beitragen, dass wir immer wieder Schmerzen und Enttäuschungen erleben, da wir selbst durch unsere Erwartungshaltung oft genau solche Situationen anziehen, in denen wir uns in unserem Glaubenssatz wieder bekräftigt sehen. Kernthemen können laut Preisendörfer zum Beispiel auch den Selbstwert, die Handlungsfähigkeit, Sicherheit, Zugehörigkeit und Beziehungsbereich bzw. die Liebe betreffen. 

Woher kommen Glaubensätze? 

Oftmals führen Glaubenssätze in die Kindheit und Jugend des Individuums. Diese empfindsame Lebensphase zeichnet sich zum einen dadurch aus, dass das eigene Überleben in starker Abhängigkeit zu den Bezugspersonen (Eltern, Großeltern, Erziehern, etc.) steht, zum anderen wird ein wesentlicher Teil der Persönlichkeit entwickelt. Das starke, angelegte Bedürfnis des Kindes, Zuwendung und Gemeinschaft zu erfahren, sichert sein Überleben in der Familie/Gruppe und erfordert seine Anpassung an das bestehende Familiensystem. Kernüberzeugungen sind maßgeblich an einer solchen Anpassungsleistung beteiligt. Und im späteren Leben haben diese Überzeugungen bzw. Glaubenssätze einen unbewussten und zugleich starken Einfluss auf unsere Einstellung zu uns selbst oder zu unseren zwischenmenschlichen Beziehungen. Viele Glaubenssätze entstehen in der Interaktion mit den nächsten Bezugspersonen. Dabei werden innere Sätze wie „Ich bin okay!“ oder auch „Ich bin nicht okay“ geprägt. In unserer Kindheit und unserem weiteren Leben verinnerlichen wir sowohl positive als auch negative Glaubenssätze, durch diese Brille der Überzeugungen sehen wir unsere Wirklichkeit. Daher ist ein Spannungsfeld zwischen festen Glaubenssätzen und der bewussten Beschäftigung mit diesen oftmals gegeben. Eine Auseinandersetzung kann dann zu „Aha-Erlebnissen“ führen und neue Wirklichkeitswahrnehmungen erlauben. Unsere tiefen und oftmals unbewussten Glaubenssätze sind ein Filter für die Wahrnehmung unserer Umgebung. Somit wird in einer Situation Fühlen, Denken und Handeln beeinflusst und vielfach nicht bewusst gesteuert. Umgekehrt beeinflussen aber auch unsere Gedanken und Gefühle unsere Wirklichkeitswahrnehmung. So kann es passieren, dass ein Mensch, den ich als überlegen wahrnehme, in mir Gefühle von Wertlosigkeit auslöst. Wenn ich jedoch einen positiven Tag habe, an dem ich mich stark fühle, dann fühle ich mich diesem Menschen gegenüber gleichwertig. 

Ein Balanceakt

Je reflektierter uns diese ganzen Vorgänge und Zusammenhänge sind, desto leichter können wir unsere Perspektive auf die Dinge, unsere Gefühle und schließlich auch unser Verhalten zu etwas verändern. Hierfür ist es wünschenswert und sogar notwendig, einen inneren Abstand zu unserem Thema herzustellen. Und genau das ist ein Balanceakt auf einem Seil in den Lüften – denn unsere Glaubenssätze, ob positiv oder negativ, geben uns Sicherheit und sind seit Kindheitstagen verlässlich.  

Dabei ist es wertvoll, wenn ein jeder Mensch lernt, wie wichtig er sich selber findet und weiß, was er kann. Und dabei in sich Heimat ist und es mehr und mehr findet. Heimat bedeutet in diesem Fall Vertrautheit, Geborgenheit, Selbstfürsorge und Sicherheit. So zeigt die nachfolgende Geschichte zwei Aspekte: Die Heimat eines Menschen und das Vertrauen in sich und seine Talente und das Vertrauen in positive Überzeugungen aus der Perspektive eines Kindes. 

„In einer kleinen Stadt spannt ein Seiltänzer sein Seil quer über den Marktplatz. Dann beginnt er auf dem Seil zu balancieren, mit einem Stab in der Hand, aber ohne Netz – und hoch über dem Boden. Die Menge hält den Atem an, während der Seiltänzer Kunststückchen vorführt und auf dem Seil von einem Ende zum anderen läuft. Tosender Beifall, die Menschen staunen und fordern eine Zugabe. Noch einmal macht sich der Seiltänzer auf den Weg, wieder schauen die Menschen mit offenen Mündern zu, staunen, jubeln, als er am anderen Ende ankommt. Nun nimmt er eine Schubkarre, setzt sie auf das Seil und blickt in die Menge. „Glaubt ihr, dass ich es auch schaffe, diesen Karren über das Seil zu schieben?“ – „Na klar“, rufen die Leute, „kein Problem, wir glauben es!“ – „Gut“, ruft der Seiltänzer, „wenn ihr mir das zutraut – wer möchte sich dann in die Schubkarre setzen?“ Nun wurden die Mienen der Zuschauer ängstlich. Das Geschrei verstummt, alle schweigen und blicken zu Boden. Nein, sich in den Karren zu setzen, dass ging dann doch zu weit! Da meldet sich ein kleiner Junge. „Ich setze mich in den Karren“, ruft er. Die Menschen sind unruhig, wollen ihn davon abhalten, doch zu spät. Der Junge setzt sich in die Schubkarre, der Seiltänzer beginnt seinen Weg, das Seil schwankt, der Wind pfeift. Doch Schritt für Schritt läuft der Seiltänzer über das Seil. Als er am anderen Ende ankommt, jubeln die Menschen ihm zu, klatschen, sind begeistert. Und der Junge wird gefragt: „Hast du denn gar keine Angst gehabt?“ „Nein“, antwortet der Junge, „warum auch? Der Seiltänzer dort, das ist ja mein Vater!““ (Gerke, Robert)

Katrin Keller

Prof. Dr. phil., Mitglied der basis-Redaktion. 

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