Zwischen Nudging und Nötigung
Zur Psychologie des Sendungsbewusstseins
von Klaus Glas
Wenn ich mir die Talkshow „Markus Lanz“ angucke, wird mir vor all den Eiferern ganz schwindelig. Es scheint, als habe das Coronavirus als Nebenwirkung eine Schar von Sendungsbewussten hervorgebracht: Politiker, Epidemiologen, Virologen und Ethikerinnen reden sich die Köpfe heiß, als ginge es um den Untergang des Abendlandes. Wenn in einer Debatte die eigenen Grundüberzeugungen touchiert werden, wird es emotional. Der emotionale Kampfschalter wird eingeschaltet. Es kommt Ärger auf, weil die uneinsichtigen Anderen überhaupt keine Bereitschaft signalisieren, den vorgebrachten vermeintlich vernünftigen Argumenten zu folgen.
Die hitzige Debatte, welche Corona-Strategie die richtige sei, beschäftigt Deutschland seit Monaten. Auf der einen Seite gibt es einige Politiker und Journalisten, die vehement die Grund- und Bürgerrechte anmahnen. Manche dieser Akteure setzen bei der Impfkampagne auf Nudging-Techniken. Diese sollen die Bürgerinnen und Bürger durch einen kleinen Schubser („Nudge“) in die richtige Richtung lenken. Auf der anderen Seite gibt es die große Gruppe derer, die sich dafür aussprechen, Druck auf die Zögernden auszuüben. Wer sich nicht impfen lasse, verhalte sich unsozial. Deshalb dürften diese künftig weder Kneipen, Clubs noch Kirchen besuchen. Bratwurst als Belohnung oder Ausschluss als Bestrafung, das ist hier die Frage.
Wer: Die Sendungsbewussten
Sendungsbewusstsein, das heißt: absichtsvoller Einsatz von Werte geladenen Botschaften, um das Erleben, die Einstellungen und das Verhalten anderer Menschen zu beeinflussen. Nicht jeder ist zu einem Avantgardisten oder Apostel berufen. Wer die Welt oder die Kirche verändern will, braucht eine gehörige Portion Extraversion und eine große Offenheit für Erfahrungen. Martin Luther war davon überzeugt, dass ihn Gott selbst zu seinem Propheten berufen habe. Josef Kentenich bezeichnete seine Soutane gegenüber einem jungen Priester selbstbewusst als „Propheten-Mantel“. In einer schicksalhaften Stunde brachte er seinen Wagemut zum Ausdruck: „Wer eine Sendung hat, muss sie erfüllen, auch wenn es in den tiefsten Abgrund geht, auch wenn Todessprung auf Todessprung dafür verlangt wird.“ …
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