Zwischen Resignation und Hoffnung
Die Grundsehnsucht nach Aufbruch
von Bernhard Brantzen
„Wir sind doch der Politik ohnmächtig ausgeliefert. Uns hört ja doch niemand. Am liebsten würde ich auswandern. Vielleicht brauchen wir wieder eine Monarchie, damit wir wieder eine wirkliche Demokratie werden. Da hätte ich wieder Lust mitzumachen.“ Dieses Zitat einer 33-jährigen Frau ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern mir tatsächlich in den vergangenen Wochen begegnet – auch wenn es besonders in den beiden letzten Sätzen absurd erscheint. Es scheint mir aber ein Ausdruck für die Orientierungslosigkeit in dem derzeitigen Wirrwarr rund um diesen Erdball zu sein. Davon zeugt auch ein anderes Zitat eines etwa 65-jährigen Mannes aus meinen Gesprächen in der jüngsten Zeit. „Ich glaubte mal, dass ich innerhalb der katholischen Kirche Halt finde und habe mich ja dort auch aus Überzeugung engagiert. Aber das, was da jetzt läuft, macht mich sprachlos. Ich habe meine Heimat verloren und überlege, ob ich nicht in eine andere Kirche gehe, um wieder etwas bewegen, voranbringen zu können.“
„Da hätte ich wieder Lust, mitzumachen“ und „Ich möchte wieder etwas bewegen und voranbringen“. Es ist eine innere Zwiespältigkeit, von der sich Menschen aller Generationen hin- und hergerissen fühlen: Bei aller Trauer, allem Abschiednehmen, vielleicht sogar aller Resignation ist in ihnen gleichzeitig eine Sehnsucht nach neuer Bewegung, nach Hoffnung, nach einem neuen Lebens- und Glaubensziel, nach einem Platz, an dem Sie sich zuhause fühlen. Sie stehen sozusagen in den Startlöchern, wieder einen neuen Aufbruch zu wagen.
Leben mit den Realitäten der Umwege
Im Grunde ist jedem von uns bewusst, dass unser Leben sich immer in Anspannung zwischen Polen und Zwiespältigkeit bewegt. Es gibt keine geraden Wege und keine endgültigen Sicherheiten. Schon deswegen nicht, weil all unser Planen und Denken in die Zukunft immer unter Vorbehalt dessen steht, was an Ereignissen im nächsten Augenblick auf uns zukommen wird, die alle unsere Vorstellungen über Bord werfen und uns zwingen, uns neu zu sortieren und auszurichten. Es ist eine tägliche Herausforderung, sich dieser Neuausrichtung zu stellen und sie anzunehmen. Ich, der niemals Krieg, Unterdrückung und völlig chaotische gesellschaftliche Verhältnisse erlebt hat, frage mich oftmals, wie Menschen, die diesem überall in der Welt ausgeliefert sind, ihr Leben bewältigen. Wie sie damit umgehen, wenn eine kleine Hoffnung auf Besserung durch den nächsten Raketeneinschlag zerstört wird. Was sie hoffen lässt und ihnen Kraft gibt, wenn sie nicht wissen, ob sie ihren Kindern am nächsten Tag noch etwas zu essen geben können. Wie sie sich dennoch aufbäumen und am Leben bleiben wollen, trotz allem Druck auf ihr Leben.
Wir sprechen heute von der Resilienz eines Menschen. Es ist der Prozess, in dem Personen auf Probleme und Veränderungen mit Anpassung ihres Verhaltens reagieren. Innere Ressourcen wie Selbstwertgefühl, positive Lebenshaltung, ein soziales Umfeld, das Menschen auch in belastenden und chaotischen Lebenssituationen trägt und hält, tragen dazu bei, wieder Mut zu schöpfen, neue Hoffnung zu entwickeln. Kopf und Herz wieder frei zu bekommen, um handlungsfähig zu bleiben. Die Umwege und Widrigkeiten des Lebens anzunehmen und neu anzusetzen. Menschen, die in einem festen, scheinbar unumstößlichen Norm- und Verhaltenssystem und -muster eingezwängt sind, werden es schwer haben, innere und äußere Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in schwierigen Situationen einzusetzen.
Wie rasch fühlen wir in einer vergleichsweise gesicherten Gesellschaft und Umgebung beim Eintreten von etwas extremeren Lebenssituationen uns in unseren Rechten, insbesondere Freiheitsrechten, eingeschränkt und neigen zu Auflehnung oder gar Resignation. Spätestens, wenn wir wie in Zeiten von Corona auf manche Annehmlichkeit verzichten müssen und in unserem gewohnten Freiraum aus Verantwortung auch für andere uns begrenzt fühlen. Es scheint mir ein Ignorieren der zum Leben selbstverständlich dazugehörenden Umwege zu sein, die uns immer wieder aus der Behaglichkeit und sogenannten „Normalität“ herausreißen und wachrütteln. Und die Frage stellt sich: Wie sieht es mit meiner eigenen Resilienz aus und worin ist sie verwurzelt?
Aufbruch ins Abenteuer des Lebens
Als Mose den Israeliten, die unter der Unterdrückung in Ägypten massiv zu leiden hatten, sagte, sie würden jetzt in ein neues Land aufbrechen, haben es die einen nicht geglaubt, die anderen empfanden dies als neue herausfordernde Perspektive für ihr Leben, und wieder andere hatten Angst, das Gewohnte und Vertraute trotz aller Qualen aufzugeben; denn man wusste ja, was man hatte. Und wie oft kam dann später auf der Wanderung, wenn es wieder mal eng wurde, der Ruf: „Wären wir doch in Ägypten geblieben. Dann hätten wir wenigstens was zu essen und zu trinken.“ Diejenigen, die aber die innere Resilienz hatten, in die Zukunft zu denken, eine Vision der Zukunft zu haben, die Aufbruch nicht als Abbruch, sondern als bereicherndes Abenteuer des Lebens empfanden, stellten sich flexibel und veränderungsbereit den ständig sich wechselnden Lebenssituationen und zogen damit die Unzufriedenen und Resignierenden immer wieder mit.
Die Stärke ihrer Resilienz zogen sie nicht nur aus der eigenen Kraft, dem Mut, Neues trotz aller Widerstände, die dagegen sprachen, anzugehen. Sie kam aus der Zusage Gottes an Mose auf dem Berg Horeb, als dieser Gott fragte: „Was soll ich ihnen sagen, wer Du bist?“ Und Gott antwortete: „Sag ihnen einfach: Ich bin Jahwe, also ich bin der ich bin – Ich bin da – ich bin bei und mit Euch zu jeder Sekunde und an jedem Ort Eures Lebens und in jeder gelingenden und unüberwindlich erscheinenden Lebenssituation. Deshalb könnt ihr innere Resilienz und Vertrauen ins Leben haben – in jedem Augenblick und an jedem Ort. Also macht Euch auf den Weg.“
Diese biblische Geschichte führt uns vor Augen, dass unsere eigene Stärke und Resilienz – bei aller immer wieder sich zeigenden Unsicherheit und Angst in bedrohlichen Zusammenhängen – dann eine besondere Stabilität erhält, wenn wir diesem Wort Gottes vertrauen. Im Psalm 118, 14 heißt es: „Meine Stärke und mein Lied ist der Herr; er ist für mich zur Rettung geworden“. Mit dieser Stärke und Resilienz Gottes kann unsere eigene Stärke und Resilienz immer mehr an Sicherheit und Vertrauen gewinnen. Es macht Mut, immer wieder aufzubrechen und sich auf das Abenteuer des Lebens in der Gewissheit einzulassen, andere mit begeistern und mitziehen zu können – wider alle Resignation jeden Tag ein wenig neu die Zukunft zu gestalten.
In jedem Menschen steckt diese Grundsehnsucht, gegen alle Widerstände zu leben und immer wieder neu aufzubrechen, sich auf Umwege und Abenteuer einlassen zu wollen. Wenn wir uns im Tiefsten die Kraft aus dem Vertrauen und der Resilienz Gottes holen, wird uns dies gelingen.
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