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Zwischen Verantwortung und Ohnmacht

In der Spannung zwischen Verantwortung und Ohnmacht

basis-Interview mit Bischof Dr. Michael Gerber:
Bischof sein in Zeiten des Umbruchs

basis:  Sie waren im Mai beim Katholikentag in Stuttgart. Wie haben sie den Katholikentag dort erlebt?

Bischof Michael Gerber:  Ich habe die vielen Gespräche mit den unterschiedlichen Menschen sehr geschätzt. Der Katholikentag bringt Menschen zusammen, die sich sonst nicht begegnen würden – aus ganz unterschiedlichen Kreisen innerhalb unserer Kirche. Natürlich war spürbar, dass im Vergleich zum vorigen Katholikentag fast nur ein Drittel der damaligen Zahl der Gäste nach Stuttgart angereist war. Ein Teil des Schwunds lässt sich auch mit der unsicheren Planungslage für Veranstalter und Teilnehmer in der weiter relevanten Pandemiesituation erklären. Besonders deutlich zeigte sich der Schwund an Teilnehmern im Bereich der jungen Generation. Mir sind nur wenige Jugendgruppen aufgefallen. Das hat auch damit zu tun, dass größere Gruppen, etwa aus Pfarreien und Verbänden, einen längeren Planungsvorlauf brauchen. Im Winter war aber noch nicht absehbar, wie die pandemischen Bedingungen im Mai sein werden.

basis:  Was passiert Ihrer Beobachtung nach gerade in der Katholischen Kirche in Deutschland?

Bischof Michael Gerber:  Ob Menschen heute der Kirche zutrauen, eine Perspektive für die Zukunft zu bieten, hat viel damit zu tun, ob sie selbst die Relevanz des Glaubens erfahren für zentrale Fragen des Lebens oder ob sie Menschen begegnen, bei denen sie spüren: Ja, der Glaube hilft ihnen in existenziellen Lebenssituationen. Drei große Themenfelder sehe ich da:

Erstens: Glauben kann uns helfen, mit dem Unvorhergesehenem in unserem Leben umzugehen. Wir werden mit Dynamiken globaler Entwicklung (Krieg in der Ukraine, Klima, Migration etc.) konfrontiert, die uns vor Augen führen: Es lässt sich kaum noch vorhersagen, wo wir in zwei, drei Jahren stehen werden. Wie gehen wir mit dieser Unsicherheit konstruktiv um? Das Zeugnis von Christen durch die Jahrhunderte zeigt uns hier eine Perspektive auf, Herzenshaltungen, die helfen, genau in solchen Momenten einen Weg in die Zukunft zu finden.

Zweitens: Der Glaube kann polarisieren, spalten, das erleben wir leider auch in unserer Religion. Aber der Glaube hat auch das Potential, unterschiedliche Menschen zusammen zu führen. Menschen machen die Erfahrung: Das, was uns verbindet, ist stärker als das, was uns trennt. Und wir haben auch eine Verantwortung für diejenigen, die nicht zu unserer Gruppe, zu unserem Volk oder zu unserer Religion gehören.  

Und drittens nimmt sich der christliche Glaube von seinem innersten Wesen her immer sehr konkreter Notlagen an. Jede Krise kennt ihre konkreten Gesichter. Die Identität des christlichen Glaubens besteht in der selbstverständlichen Nähe zu den Notleidenden und darin, mitzuhelfen, das Not gelindert wird.

basis:  Wie kann man Bischof sein in der Dauerkrise?

Bischof Michael Gerber:  Das geht nur aus tiefer spiritueller Verankerung heraus. Wir Bischöfe brauchen heute – wie viele, die sich in der Kirche engagieren – eine persönliche spirituelle Haltung, die uns hilft, die Spannung zwischen Verantwortung und Ohnmacht gut auszutarieren. Hier braucht es eine große innere Freiheit. Jeden Tag kann etwas geschehen, für das die Öffentlichkeit meinen Rücktritt fordert, auch wenn ich nicht unmittelbar und persönlich an den Ursachen der skandalösen Situation beteiligt wäre. Damit angemessen umzugehen, mich berühren zu lassen vom Schicksal der Menschen, die da betroffen sind, dem Drang zu widerstehen, doch letztlich nur die eigene Haut retten zu wollen, braucht aus meiner Sicht eine tiefe Verwurzelung in der Christusbeziehung.

Bischof Dr. Michael Gerber

Dr. theol., Bischof im Bistum Fulda. Mitherausgeber des Buches „pastoral am puls“.

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