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Stefan Heße

Äthiopien aktuell

22.05.2019

Manchmal ist es gut, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. So ergeht es mir hier in Äthiopien, wohin ich vor einigen Tagen als Flüchtlingsbischof der Deutschen Bischofskonferenz aufgebrochen bin. Äthiopien – ein Land, das stark von Flucht und Migration betroffen ist. Die Geflüchteten, denen ich hier begegne, leben in der Hoffnung auf Frieden.

„Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt…“ – wie oft habe ich diesen Satz aus dem heutigen Tagesevangelium schon gehört. Hier und jetzt, in der Grenzregion zwischen dem Südsudan und Äthiopien, wird er für mich auf neue Weise ganz konkret. Es sind die von Gewalt gezeichneten Menschen, zu denen der Herr spricht. Was sollen sie schon von einer Welt erwarten, in der ihnen das letzte Hemd genommen wurde? Die existenzielle Dimension des fehlenden Friedens steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Das Wort vom Frieden, wie ihn die Welt nicht geben kann – hier klingt es wie eine Verheißung auf ein Leben in Würde.  

Gleich nach meiner Ankunft auf dem ehemaligen Militärflughafen Gambella ruft man mir – halb scherzhaft, halb im Ernst – „Welcome to hell“ entgegen. Die Temperatur liegt in dieser Jahreszeit bei 37 Grad; bald werden es über 45 Grad sein. Für Menschen aus dem äthiopischen Hochland kann es nicht viel weiter bergab gehen. Für die Schutzsuchenden aus dem vom Bürgerkrieg geplagten Südsudan hingegen ist Gambella zum Zufluchtsort geworden. Die Provinzstadt hat knapp 40.000 Einwohner; allein im benachbarten Jewi-Flüchtlingslager leben über 60.000 Menschen. Insgesamt haben in der Region mehr als 400.000 Südsudanesen Schutz gefunden. Man stelle sich das in Deutschland vor: Ein Ort, der im Verhältnis zur Zahl der Einheimischen ein Vielfaches an Flüchtlingen aufnimmt. Dass das nicht reibungslos abläuft, versteht sich von selbst. Dass es trotz widrigster Umstände überhaupt funktioniert, ist für europäische Besucher erstaunlich und beschämend zugleich. Inmitten dieser vermeintlichen „Hölle“ gibt es Zeichen der Solidarität und Momente der Geborgenheit.

Und doch ist Gambella ein Ort, der die Verletzlichkeit des Menschen drastisch vor Augen führt. Dies zeigt sich zunächst an den unzähligen Hinweisschildern, die über das ganze Camp verteilt sind: Warnungen vor Infektionen, Appelle gegen sexuelle Gewalt. Vor allem aber sprechen die Geschichten der Menschen von tiefen Verwundungen. Da sind Frauen, die beim Holzsammeln vergewaltigt wurden; Jugendliche, die sich mit HIV angesteckt haben; Kinder, die zu viel Gewalt erfahren haben, um noch ungetrübt auf die Welt blicken zu können.

Wer derart verwundeten Menschen begegnet, der spürt: Was ihnen bleibt, ist ihre Würde. Nichts ist verletzlicher, nichts kostbarer. Damit „Würde“ nicht zur Worthülse verkommt, muss sie immer wieder aufs Neue verteidigt werden – gerade an Orten wie Gambella. Dazu bedarf es Menschen, die den Frieden, wie ihn die Welt nicht geben kann, erfahrbar machen. Ich bin in Gambella solchen Menschen begegnet. Dank ihnen kann Gambella zum Ort der Hoffnung werden.

 

 Foto: © Deutsche Bischofskonferenz

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