Christian Hennecke
Erdbeben
02.02.2022
#Outinchurch: Menschen erzählen ihre Schmerz-, Unrechts- und Befreiungsgeschichten in eindrücklicher Weise. Sie erzählen ihren Weg in die Freiheit, sich erzählen sich in die Freiheit. Und sie haben ein Erdbeben ausgelöst, um es mit Julia Enxing in ihrem Wort zum Sonntag zu sagen. Und es ist nicht die einzige Systemerschütterung: der Untersuchungsbericht über den Umgang mit dem sexuellen Missbrauch im Erzbistum München, die unangemessenen Reaktionen des emeritierten Papstes, die Reaktionen des Erzbischofs und die weiter erschreckenden Vorgänge in Köln führen zu einer seltenen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für eine Kirche, die sich – so die Kommentatoren – selbst ins gesellschaftliche „Aus“ kickt. Austrittszahlen werden weiter steigen, Auflösungsprozesse sich beschleunigen.
Ein Systemgefüge ändert sich nicht aus sich selbst. Ganz im Gegenteil. „Es“ – alle in ihr – ahnt, wenn seine Existenz gefährdet ist. Und es ist darauf ausgerichtet, Erschütterungen aufzufangen. So habe ich in den vergangenen Jahrzehnten schmerzvoll gelernt: Gestaltgefüge ahnen die tiefen Umbrüche und wehren sie ab. Optimierung und Reformen dienen oft nur zum Selbsterhalt. Und ich habe mich immer gefragt, wie dann wirklich Neues wachsen kann. Denn selbst dann, wenn die Erschütterungen zunehmen und bisherige Muster der Normalität bedroht sind, bleiben Gefüge im Erhaltungsmodus, selbst wenn kaum jemand noch davon überzeugt ist, dass es so richtig ist. Aber: Veränderung, zumal radikale Veränderung, ist unabsehbarer denn das Lavieren im Unglückszustand, auch des Eigenen.
Vielleicht aber ist der Moment da, in dem die Erschütterungen nicht mehr aufgefangen werden können. Dann, so erzählen die Systemiker, kollabiert das Gefüge mit offenem Ausgang. Auf der einen Seite kann es zu einer Implosion kommen – ein Zusammenbruch, der alles betrifft. Auf der anderen Seite greift in solchen Momenten das Gefüge nach den Neuaufbrüchen, die sich im Schatten des Gefüges geschützt entwickeln konnten.
Ob dieser Moment nahe ist? Reicht die Erschütterung schon aus? Können wir eine Hoffnung auf einen Kollaps der Erhaltungsdynamik haben? Es wäre möglich – und hätte mehr Konsequenzen als gedacht. Denn ein solcher Kollaps betrifft dann ja nicht nur Hierarchien und Verwaltung, er beträfe Fakultäten, ZdK, Gemeinden, die Caritas, alles hängt eben mit allem zusammen.
Aber was wird dann möglich? Die Resonanz auf #Outinchurch legen nahe, welchen Weg eine Kirchengestalt der Zukunft gehen wird. Die Rückkehr zum Ursprung steht an und eine Relecture der Botschaft, die der eigentliche Auftrag der Kirche ist: das Evangelium im Leben und vom Leben her zu lesen, wie es die Zeugnisse von #outinchurch zeigen. Sie antworten auf eine Sehnsucht nach Echtheit und Glaubwürdigkeit, die in der Gesellschaft vorhanden ist. Sie antworten auf das Einklagen der evangelischen Identität, die offensichtlich nicht durch das institutionelle Gefüge geleistet wird.
Nicht die Angst vor dem Verlust der Relevanz und der Einflussmöglichkeiten, die eine gesellschaftliche Vergangenheit den Kirchen gewährte, darf den Weg in die Zukunft behindern, sondern der Mut, auch ohne institutionelle Sicherheiten der Wirkkraft des Evangeliums in der Welt zu vertrauen: Ehrlichkeit, Primat der Liebe, und Umarmung der Wirklichkeit durch das Licht des Glaubens werden gesucht und ersehnt in einer Gesellschaft und von Menschen, die diese Orientierung nicht aus sich selbst zu finden scheinen – und die offensichtlich einen sensus für die Echtheit der Botschaft haben und sie mit Recht von den Christen erwarten. Auf jeder Ebene.
Und für die Christen, von der Gemeinde vor Ort bis zum Bischof, bedeutet dies, neu und ehrlich zu fragen, was das Evangelium und die großen Traditionen existenziell bedeuten – und sie neu ins Leben buchstabieren, in einer neuen Freiheit. Mit Dietrich Bonhoeffer. „Wir alle sind auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen“. Und das ist gut so.
Christian Hennecke
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