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Peter Kohlgraf

Wo Gott den Menschen nahe kommt

19.06.2019

“Wie konnte Gott so etwas zulassen?” Diese Frage wurde der Tochter des Fernsehpredigers Billy Graham in den USA nach dem 11. September 2001 gestellt. Und Anne Graham gab eine außerordentlich bemerkenswerte Antwort: “Ich glaube, dass Gott, genau wie wir, zutiefst traurig darüber ist. Doch wir müssen eins klar sehen: Seit Jahren weisen wir Gott aus unseren Schulen, aus unserer Regierung und aus unserem Leben, und da er ein Gentleman ist, glaube ich, hat er sich still und leise zurückgezogen. Wie können wir erwarten, dass Gott uns segnet und schützt, wenn wir doch von ihm verlangen, dass er uns gefälligst in Ruhe lassen soll?” 

Der Gott des Evangeliums, der Gott Jesu, ist solch ein Gott nicht. Er will uns nicht in Ruhe lassen, und auch wir sollen ihn nicht in Ruhe lassen. Jesus lebt ganz in der Gebetstradition seines Volkes Israel. Und dort begegnen wir einem Gott, der sich in leidenschaftlicher Liebe nach seinem Volk und nach jedem einzelnen Menschen sehnt. Gott liegt jeder einzelne Mensch am Herzen. Er geht jedem nach, und lässt keinen fallen. Gott ruft immer wieder nach dem Menschen.

Wenn Gott dem Menschen so nahe ist, muss dies nicht immer bequem sein. Denken wir an den Propheten Jona. Er bekommt einen Auftrag, und rennt weg. Er möchte Gott entkommen. Gott soll ihn in Ruhe lassen, denn wenn es Gott gibt, dann muss sich etwas tun. Wem Gott nahe kommt, bei dem muss sich meist etwas ändern, der bekommt vielleicht einen Auftrag. Wir aber hören und spüren ihn nicht?

Nein, Gott ruft nicht immer laut und aufdringlich. Und er ruft auf so unterschiedliche Weise. Wer sich tiefer mit Jesus beschäftigt, wird in seinem Gewissen spüren, wo Gott ihm nahe rückt und in welchem Punkt er sein Leben ändern muss. Der Ort, an dem Gott ruft und spricht, ist das Gewissen. Gott ist uns nahe gekommen und er bleibt uns nahe. Er lässt uns nicht in Ruhe.

Das betrifft auch unsere Gesellschaft. Glaubende Menschen müssen sich einmischen, um Gottes und des Menschen willen. Unsere Welt braucht glaubwürdige Christinnen und Christen, die anderen zeigen, dass sie von Gott berührt und bewegt sind. Wer mit dem Anspruch auftritt, Gottes Wort zu sagen, muss natürlich umso glaubwürdiger sein. Gott ist kein Gott, der uns in Ruhe lässt, auch die Kirche nicht. Wir brauchen diesen Gedanken hier nicht konkretisieren. Auch die Kirche darf die Ohren vor Gottes Anruf nicht verschließen. Dafür muss sie eine betende Kirche bleiben.

Gott will, dass wir ihn nicht in Ruhe lassen. Jesus sagt es deutlich. Das Beste, was wir tun können, ist das Festhalten an ihm. Ihm unser Leben erzählen. Die Welt kann sich zum Guten wandeln, wenn wir Gott den gebührenden Platz einräumen.

Bischof Dr. Peter Kohlgraf, Mainz


                                    Foto: pixabay.com

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