0261.604090

basis Kommentare

Christian Hennecke

Der Virus und ein neuer Anfang

25.11.2021

Der Virus. Er hat Macht. Er legt Grenzen und Schwächen offen. In der Gesellschaft und in der Kirche. Er ist offenbarend und erschreckend. Und er fokussiert den Blick.

Zunächst und in erster Linie ist der Virus ein ansteckender Virus, der uns Menschen physisch krank macht. Viele Menschen sind schon an dieser Krankheit gestorben, und es werden immer mehr. Aber uns, die Überlebenden, Genesenen, Geimpften und Gesundgebliebenen macht er in einer noch tieferen Weise krank. Er greift ein in das Wesen unseres Menschseins: wir erleiden Beziehungsverluste, wir begrenzen Kontakte, denn wir wollen weder anstecken, noch angesteckt werden. Es ist geradezu paradox: wer den Nächsten liebt, muss sich zurückhalten.

Mit gravierenden Konsequenzen: die vergangenen Schulschließungen und ihre psychischen Folgen sind nur ein Beispiel. Depression, Einsamkeit, und der Verlust des wirklich menschlichen – einer liebenden Praxis des Miteinanders. Und das ist dramatisch. Denn gleichzeitig mit dieser massiven Einschränkung von Beziehungen erleben wir zeitgeistige Polarisierung, erleben wir Hatespeech in sozialen Medien – auf allen Ebenen wird das Fundament unseres Mit-Menschseins fragil. Hält uns was zusammen? Was verhindert Egoshooting? Was ermöglicht Strassenkriege in Rotterdam? Das gilt im Kleinen und im Großen. Als würde der Zeitgeist zusammen mit dem Virus ein echter Angriff auf die Menschlichkeit sein, oder besser: auf die Mit- und Zwischenmenschlichkeit.

Auf der großen Weltebene leben wir in einer Zeit neuer Diktaturen, erfahren perfide Machtspiele mit Flüchtlingen am Mittelmeer und in Belarus, erleben Energiekriege und rücksichtsloses Ringen um Macht auf der Ebene der Weltpolitik. Von Gleichgewichten und Vertrauen ist wenig zu spüren. Auch hier wird das Fundament der Beziehungen belastet und vielleicht zerstört.

Sehr herausfordernd erlebe ich das in der Kirche. Virus und Zeitgeist legen offen, dass unsere Gemeinschaft zerbrechlich ist, einfach verlorengehen kann. Wir feiern Gottesdienste, aber wir merken auch, dass die Abstandsregeln einen merkwürdigen Widerspruch darstellen zur Kommunion, zur ersehnten und geschenkten Gemeinschaft. Denn die Mitte unseres Glaubens ist eine Mitmenschlichkeit, in deren Zwischen Gott selbst anwesend und erfahrbar ist. Das Geschenk seiner Gegenwart schenkt Gemeinschaft unter allen, unabhängig von Nation, Kultur und Prägung.

Aber vielleicht haben wir in unseren kirchlichen Routinen auch vor Corona schon dieses Geschenk oft noch gar nicht ausgepackt! Vielleicht hat eine prägende Form des Kircheseins gar nicht auf diese innerste Wirklichkeit der Beziehung gesetzt, sondern auf Rituale und Vorgaben, auf Stände und Positionen, auf Aktivitäten und objektivierbare Vollzüge – und nicht zuerst auf das Worum-willen unseres Glaubens: die Geschwisterlichkeit, die Fülle der Beziehungen und des Lebens, die Gott schenkt.

So fordert uns das Virus und der populistische autokratische Zeitgeist neu heraus, den Ursprung unseres Glaubens und unseres Menschseins neu zu entdecken: es geht um radikale Menschlichkeit, es geht um eine Neuentdeckung der Beziehungen, um eine neue Fokussierung auf die Mitte unseres Glaubens.

Vielleicht ist dann dieser Virus auf unerklärliche Weise auch ein Kairòs: vielleicht macht er deutlich, worauf es für die Zukunft ankommt, wenn wir das gemeinsame Haus der Welt nachhaltig gestalten wollen. Wenn die ganze Schöpfung, so sagt es Paulus im Römerbrief, sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes wartet, damit Erlösung die gesamte Schöpfung umfasst, ist heute – mitten in der Pandemie des Coronavirus und der Pandemie der Macht – vielleicht der Augenblick für eine neuen Anfang. Ein Anfang des Menschseins.

Denn die zuweilen dramatische Endzeitstimmung darf nicht den Blick dafür verbergen, dass an vielen Orten und mit vielen Menschen genau jene Menschlichkeit ins Leben gekommen ist, die der Virus beschädigen konnte: wieviel Engagement und Mitmenschlichkeit an vielen Orten spürbar wird, ist beeindruckend – und ein Vakzin gegen populistische Dialektik und Machtspiele.

Und auch wir Christen können uns neu ausrichten auf die Gegenwart Gottes, die sich mitten in Beziehungen zeigen will. Denn Gott wird Mensch, damit wir Menschen menschlich sein können. Und ist nicht bald Advent?

Dr. Christian Hennecke – Hildesheim

Foto: pixabay.com

Antworten