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Christine Lieberknecht

Gleich einem Brennglas

06.05.2020

Der Höhepunkt der ersten Corona-Welle in unserem Land ist überschritten.  Angeordnete Maßnahmen, die das wirtschaftliche, kulturelle und ganz normale Alltagsleben der Menschen nahezu zum Erliegen brachten, werden  gelockert. Zugleich wissen wir, dass niemand eine nächste, möglicherweise noch heftigere Infektionswelle vorhersagen kann. Dennoch, das Aufatmen der Hoteliers an den Stränden von Nord- und Ostsee bis zu den Gastronomen bayrischer Biergärten ist unüberhörbar.  Live-ticker, Nachrichtensendungen und Talkshows lassen uns einprägsam die Reanimation unseres gesellschaftlichen Lebens mitverfolgen.

Wer allerdings tatsächlich begreifen will, wieviel Einsamkeit, Verzweiflung und Ohnmachtserfahrung Menschen mit dem „Lockdown“ seit Mitte März im Ernstfall zugemutet wurde, der muss dies wohl aus nächster Nähe selbst erlebt haben. Da stürzt ein hochbetagter Familienvater bei seinem gewohnten Nachmittagsspaziergang auf den Gehweg. Nachbarn bemerken den Unfall und rufen einen Rettungswagen. Umgehend wird der Gestürzte ins Krankenhaus gefahren. Zugleich werden die Angehörigen des Verletzten benachrichtigt. Doch die Unfallnachricht kommt für die Angehörigen zu spät. Es gibt keine Tür des Krankenhauses, die sich für Sohn, Tochter oder Enkelkinder des nunmehr ans Bett gefesselten, aus Altersgründen schon seit längerem nicht mehr hörfähigen alten Mannes auch nur einen Spalt breit öffnen würde. Allein durch eine schmale Luke an der Pforte des Klinikums dürfen die notwendigsten Dinge des täglichen Bedarfs für den Patienten abgegeben werden. Persönliche Kontaktaufnahme ist nicht möglich. Sechs lange Tage und Nächte geht das so. Am siebten Tag verstarb der Familienälteste, 95 Jahre alt.

Niemand war bei ihm, auch kein Geistlicher, der einen vertrauten Psalm mit ihm hätte beten und bedeuten können:  Du bist nicht allein. Keiner seiner Kinder hielt ihm die Hand, obwohl er mit seiner Familie im gleichen Haus wohnend bis vor wenigen Tagen sein Leben unmittelbar und täglich mit seinen Lieben teilte.

Ich will an dieser Stelle nicht über die Alternativlosigkeit angeordneter „Lockdown“-Maßnahmen diskutieren.  Vielmehr eröffnet sich für mich durch die radikale Beschneidung von Freiheits- und Verantwortungsrechten des Einzelnen und der dem Staat vorausgehenden Institutionen von Familie und Kirche, gleich einem Brennglas, die Debatte über deren Bedeutung, Akzeptanz und Status für Staat und Gesellschaft überhaupt – ganz unabhängig von der aktuellen Pandemie.

 

Christine Lieberknecht, Ministerpräsidentin von Thüringen a.D.

 Foto: pixabay.com

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