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Uhren

Frank Riedel

Gleichzeitig

29.03.2023

„Wie schafft ihr das alles gleichzeitig?“, so möchte ich manchmal Familien fragen, die ganz viel unter einen Hut bekommen: Kindererziehung mit all dem Unerwarteten, was dazu gehört; die Anforderungen des Berufs; der Haushalt und dann auch noch ehrenamtliches Engagement, Kontakthalten zu Freunden usw. Ich bin oft tief beeindruckt, was Menschen zu leisten fähig sind und welche Kräfte und Energien sie dafür wecken können – auch und gerade angesichts von Schwierigkeiten und Herausforderungen. Da erzählt eine Mutter oder ein Vater, mit wie wenig Schlaf sie gerade auskommen – das Kind krank oder es zahnt gerade – und doch wird das ganze begleitet von einem Lächeln und einer gehörigen Portion Dankbarkeit.

Geht es mir nicht auch manchmal so? Erstaunlich, was selbst in dicht getakteten Zeiten noch alles geht. Ich weiß, was ich noch alles zu tun habe, denke vielleicht mit Sorge daran, aber in dem Moment, in dem mich jemand anspricht und ich merke, es ist jetzt gut, sich Zeit zu nehmen für diese Person, ordnet sich meine Prioritätenliste neu. Es gibt diese „Jetzt-Momente“, die mich freier werden lassen von allem Zeitdruck und dem damit verbundenen Gefühl des Müssens und Sollens. Zeiten, in denen ich das Gefühl habe, an etwas Wesentlichem dran zu sein, vertragen vieles, was „nebenher“ mitläuft.

In einem Buch von Henri Nouwen begegnet mir ein inspirierender und wertvoller Gedanke: Es ist möglich, Schwieriges und Beglückendes nicht als Widerspruch zu verstehen, sondern sie gleichzeitig zu erfahren. Nouwen beobachtet, dass im Bewusstsein der Welt Freude und Trauer in aller Regel als zwei separate, sich entgegenstehende Gefühlszustände wahrgenommen werden. Die Folge ist, dass wir versuchen, Glück herzustellen, um die Traurigkeit zu vergessen. Kleine, in einer Konsumgesellschaft scheinbar so leicht verfügbare „Glücksinseln“ sollen das Leben aufhellen. Nouwen sagt dagegen: „Frohsein ist eine Gabe, die selbst dann da ist, wenn wir Schmerzen haben oder in unserem Leben mit Schwierigkeiten zu tun haben.“ (Henri Nouwen, Jesus nachfolgen. Nach Hause finden in einem Zeitalter der Angst)

Diese Art der Gleichzeitigkeit von Schwerem und Frohmachendem ist nach Nouwens Ansicht etwas, das aus der religiösen Erfahrung gespeist wird. Es ist eine Frucht des geistlichen Lebens. „Wir sollten damit anfangen, zu empfinden, dass im geistlichen Leben die Freude Trauer und Glücklichsein umfasst, Schmerz und Wonne. Das ist tiefer, voller. Es ist mehr. Es ist etwas, das uns bleibt. Es ist etwas ganz Tiefes von Gott. (…) Was die Kirche uns vor allem anderen lehren möchte, ist die Wahrheit, dass die Freude Gottes immer bei uns sein kann – in Augenblicken des Krankseins, des Gesundseins, des Erfolgs, des Scheiterns, der Geburt, des Sterbens. Die Freude Gottes wird uns nie verlassen.“

Der Liedermacher und Sänger Heinz Rudolf Kunze beschreibt ähnliche Erfahrungen in einer mehr säkular gefärbten Sprache: „Ich bin sicher eher bei der Melancholie als der Euphorie angesiedelt und ich kenne keinen einzigen Künstler, der keine Bekanntschaft gemacht hat mit Depressionen. Und wenn es einen gäbe, hätte er keinen Antrieb, Kunst zu machen. Wenn du alles hast, legst du dich in die Sonne und alles ist gut. Nur wenn du etwas vermisst, erschaffst du etwas.“

In Kunzes Liedern klingt das etwa so:

Ehe ich in dieses Erdenleben kam,

ward mir gezeigt, wie ich es leben würde.

Da war die Kümmernis, da war der Gram,

da war das Elend und die Lebensbürde.

Doch da waren auch die Freuden jener Tage,

die voller Licht und schöner Träume sind.

Wo Klage nicht mehr ist und Plage

Und überall der Quell der Gaben rinnt.

Vor uns liegen die Tage, in denen wir Christen uns besonders an Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu erinnern. Vielleicht kann gerade das eine passende Zeit sein, um jener eigentümlichen Gleichzeitigkeit von Trauer und Freude, die Nouwen beschreibt und Kunze besingt, nachzugehen.

Noch einmal Nouwen: Wir dürfen es wagen, zu Jesus am Kreuz hinaufzublicken, seine Hinrichtung zu sehen und zu sagen: ‚Da im Kreuz ist meine Freude.‘ Wir können deshalb vom Kreuz als Hoffnungszeichen sprechen, weil wir wissen: Je näher wir dem Kreuz kommen, desto näher kommen wir dem neuen Leben. Der Schmerz, den wir erfahren, ist wie ein Geburtsschmerz. Wir haben das Gefühl, als breche ein neues Leben auf. Die Todesangst, der Schmerz und das Leiden deines und meines Lebens erfahren wir als Weisen, etwas völlig Neuem zur Geburt zu verhelfen.“

P. Frank Riedel, München
Schönstatt-Pater, Vorsitzender des Landespräsidiums der dt. Schönstatt-Bewegung


                                     Foto: Gerd Altmann auf pixabay.com

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