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Herwig Gössl

Da steht man da und wundert sich

18.10.2017

Die Vorgänge um das Unabhängigkeitsreferendum in Barcelona riefen in mir viele Fragezeichen auf. Das liegt zum einen sicher an fehlendem Hintergrundwissen über die Umstände, unter denen es zu einer derartigen Eskalation kommen konnte. Doch auch als Außenstehender reibt man sich verwundert die Augen und fragt sich: Wie kann so etwas mitten in Europa nach Jahren und Jahrzehnten der Europäischen Einigung passieren? Dabei machte mich die Polizeigewalt der Zentralregierung ebenso fassungslos wie die blindwütige Entschlossenheit der Separatisten. Deeskalation scheint hier keinen Platz mehr zu haben – wie in so vielen Krisenherden der Erde.

Es ist inzwischen schick, Solidarität aufzukündigen, die eigenen Vorteile zu verfolgen und sich nicht allzu viele Gedanken um die Zukunft der anderen zu machen. Diese Tendenzen finden sich zunehmend in vielen Ländern der Erde und ich gebe zu: Sie machen Angst. Denn solche Tendenzen zerstören die Basis eines friedlichen Zusammenlebens.

Die Frage bleibt: Wo kommen sie her? Man kann versuchen, diese Entwicklungen als Gegenbewegung zu einer die Menschen überfordernden Globalisierung zu deuten, als Impuls gegen die Undurchschaubarkeit weltweiter Vernetzung und gegen das Gefühl, all dem hilflos ausgeliefert zu sein. In kleineren, überschaubaren Einheiten fühlt man sich eben sicherer. Inwieweit dieses Gefühl dann den Tatsachen entspricht, steht auf einem anderen Blatt.

Ja, diese Deutung hat sicher etwas für sich, aber als einzige Begründung für die beobachtbaren Phänomene weltweit reicht sie wohl nicht aus. Es erscheint mir auch ein wenig zu sehr schicksalhaft-ergeben, wenn man in all dem ausschließlich einen großen Pendelschlag sehen möchte, der nun eben in die entgegengesetzte Richtung läuft: weg vom großen WIR hin zum großen ICH.

Die christliche Tradition gibt uns eine andere Antwort: Der Mensch, jeder Mensch, ist verletzt von der Sünde. Er ist auf sich selbst hin verkrümmt, in sich selbst verliebt, sieht, spürt, empfindet vor allem das, was ihn selbst angeht, und merkt, was ihm fehlt und was vielleicht ein anderer hat. So ist der Blick auf sich selbst immer auch ein vergleichender und damit ein Einfallstor für Selbstmitleid, Neid und Eifersucht. Die Folgen sind Abgrenzung und Rückzug in die kleine Gruppe, im schlimmsten Fall Begehrlichkeit und Aggression.

Gottes Plan freilich ist nach christlicher Überzeugung ein anderer. Er heilt die Verletzung der Sünde, ruft eine Sammlungsbewegung ins Leben und sendet sie in diese Welt, damit sie Gemeinschaft aufbaut, nicht nur national begrenzt, sondern international orientiert, ja sogar diese Zeit und den Raum übergreifend. Kirche ist Gemeinschaft, ist Communio, nicht eine Interessensgruppe zur Durchsetzung eigener Ziele, sondern, wie es das II. Vatikanische Konzil sagt: „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen gentium 1). Das ist Gottes Plan, der Aufbau einer solidarischen Menschheitsfamilie, in der nicht mehr nur jeder auf sich und seinen Vorteil fixiert ist, sondern einen Blick hat für die Bedürfnisse der anderen und für deren Sichtweisen. Sicher ist das auch in der Kirche nicht immer gelungen, waren Eigeninteressen und Abgrenzung manches Mal wichtiger als das Bemühen um Verbindendes. So ging die Einheit verloren. Doch eines darf niemals verloren gehen: Die Idee der Gemeinschaft und die Überzeugung, dass sie Menschen-möglich ist.

Angesichts der realen Rückschläge, die immer wieder, und gerade momentan besonders stark zu verzeichnen sind, erscheint Gottes Plan mit der Menschheit sehr ehrgeizig. Da steht man da uns wundert sich. Vielleicht ist aber genau das der Anfang eines echten Wunders.

Weihbischof Herwig Gössl, Bamberg


                                     Foto: © Hubertus Brantzen

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