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Eine geschnitzte Engelsfigur mit einem Weihnachtsbaum im Hintergrund

Norbert Nichell

„Alles beginnt mit der Sehnsucht, am Anfang steht immer ein Traum…“

11.12.2024

„Wenn ich nur glauben könnte“, sagt mir die Patientin, die sich selbst als Agnostikerin bezeichnet. „Dann könnten Sie in dieser schwierigen Situation so manches abgeben?“, frage ich sie mitfühlend. „Dann hätte ich nicht so viele Fragen! Ja, die Religionen tragen ja zu so viel Hass und Kriegen bei, wie man auf der Welt sieht…, aber individualpsychologisch haben sie [die Religionen] ihre wichtige Bedeutung!“, antwortet sie etwas zögerlich.

„Vielleicht ist die Sehnsucht ja der 1. Schritt“, sage ich zaghaft – und versichere ihr, dass ich sie in meine ökumenische Meditation „Dienstags ½ 3“ in Gedanken und Gebet mitnehme. „Dann sagen Sie unbekannterweise mal einen schönen Gruß!“, antwortet sie mir lächelnd – und ich spüre, dass sie anfängt, zaghaft ihren Humor wieder zu finden, von dem sie am Beginn des Gesprächs gesagt hatte, dass sie ihn verloren habe, was sehr viel über ihre eigene Situation aussage: „Wenn ich den Humor nicht mehr habe, steht es schlecht um mich!“

Ich hoffe auf den „Engel der Geborgenheit“, den ich ihr zwischenzeitlich geschickt hatte, als unser Gespräch durch eine Infusionsgabe seitens der Pflegekraft unterbrochen wurde und ich die entstandene Pause nutze, um ihr die Karte draußen zu schreiben. Dieses Vertrauen und die Erfahrung einer inneren Kraft, die sie wieder Mut fassen lässt, wünsche ich ihr: nicht vertröstet worden zu sein, sondern Hoffnung zu schöpfen, ein wenig Geborgenheit in aller Hoffnungslosigkeit zu spüren – gerade in der Situation des Lebens, in der die gewohnten Kraftquellen (z.B. Lesen) nicht mehr zur Verfügung stehen.-

„Geben Sie Ihren Traum nicht auf: träumen dürfen Sie doch weiterhin…“, sage ich einer anderen Patientin, die ich vor und nach der Amputation ihres rechten Beins mit vielen Gesprächen begleitet habe, die ihr sichtlich guttun. „Alles beginnt mit der Sehnsucht, am Anfang steht immer ein Traum…“

Gerade wenn wir auf das bisher selbstverständlich scheinende Verfügbare nicht mehr zurückgreifen können, an unsere eigenen Grenzen – und deutlich darüber hinaus – geführt werden, tut es so gut, zu erleben, wie eine Beziehung in der Begleitung entstanden ist, die weitertragen kann, über alles jetzt noch Unvorstellbare hinaus. Weinen, Umarmen, Sorgen und Ängste aussprechen dürfen und miteinander lachen können: alles hatte Platz in einem Gespräch… „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken“, ruft uns Jesus im heutigen Evangelium (Mt 11,28-30) am Gedenktag des Hl. Damasus I. zu. Diesen Erfahrungsraum für Menschen zu ermöglichen und zu öffnen, motiviert mich in meiner Aufgabe als Klinikseelsorger in der Mainzer Universitätsmedizin seit 15 Jahren – auch im Vertrauen auf meinen eigenen Engel, den Gott mir zur Seite gestellt hat, der mich mit wachsamen Augen begleitet, der meinen Weg mit mir geht und dem ich vertrauen kann, wenn er zu mir spricht: „Fürchte dich nicht!“ – in diesen Tagen des Advents vielleicht in ganz neuer Weise…

Norbert Nichell

kath. Klinikseelsorger an der Universitätsmedizin Mainz


                                    Bild von Jill Wellington auf Pixabay

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