Christian Hennecke
Keine Alternative zur radikalen Liebe
29.01.2025
Wer erinnert sich nicht an die schwierige Weltmeisterschaft in Qatar, wo die Deutsche Nationalmannschaft neben ihrem schlechten Spielzügen auch mit ihrem moralischen Anspruch auffiel: Regenbogenfarben setzen in einem muslimischen Land, inmitten einer Welt voller unterschiedlicher Kulturen und Moralvorstellungen – das kann man machen. Aber wirkte es nicht auch ein wenig arrogant? Sind die Errungenschaften einer liberalen (und letztlich immer noch christlich geprägten) Kultur, die Gleichgeschlechtlichkeit als neuen moralischen Goldstandard präsentieren, universal oder bahnt sich hier ein unberechtigtes Überlegenheitsgefühl Bahn? Wenn also die Kirche in Afrika dem Papst Gefolgschaft verweigerte in der Frage der Segensfeiern für Gleichgeschlechtliche, sind dann die Afrikaner rückständig?
All das waren Vorzeichen. Vorzeichen einer neuen Welt. Inzwischen leben wir deutlicher denn je in einem Gefüge, in dem Macht, Geld und Imperialismus nackt und auch brutal an die Oberfläche treten, wo es letztlich immer um die eigenen Interessen geht – und moralische Ansprüche keine Chance zu haben scheinen. Die Revolutionen der Social Media machen offensichtlich die Frage nach der Wahrheit obsolet, und wir wachen aus einem Traum auf: es sind nicht die in den Menschenrechten fundierten Spielregeln und ihre weiteren Entwicklungen, die sich durchsetzen können, sondern oft die Frage, wie jemand den meisten Gewinn machen kann, als Einzelner, als Staat – schlicht: wer mehr Macht hat. Dahinter verschwinden alle demokratischen Grundhaltungen – und selbstkritisch wird man sagen dürfen, dass viele Entwicklungen unserer eigenen Gesellschaft auch unser Handeln dysfunktional gemacht haben: wieso ist es so schwer, pragmatische Lösungen zu finden – und wie kommt es, fragen sich noch nicht populistische Zeitgenossen, dass es nicht möglich zu sein scheint, angemessen in der Frage von Flüchtlingen, Aufenthaltsrecht und Ausweisung zu handeln?
Wenn also die krude Logik des Eigeninteresses dominant wird und hohe Resonanz gewinnt, wenn Ärger und Zorn das Handeln diktieren und meinungsprägend sind, wenn scheinbar menschliche Lösungen kluges Handeln nach Menschenverstand verunmöglichen, dann ist eine Welt am Ende, die doch von einem hohen kulturellen Konsens der Menschlichkeit lebte. Es war eine Zeit, die uns Frieden und Freiheit gebracht hatte, es war oft eine Welt humanistischer Deutungshoheit – aber offensichtlich leben gerade auch wir Christen in einer neuen Zeit, in der wir neu konfigurieren werden, wie wir – als Minderheit – die Botschaft des Evangeliums bezeugen.
Wie es nicht gehen kann, zeigt der evangelikale Prediger bei der Amtseinführung Donald Trumps, der letztlich eine Theologie der Macht vertritt und der „Gott mit uns“ auf einmal auf der Seite der konsequenten Businessmacht, des Erfolgs steht. Wie ein Spiegel wirkt hier der Patriarch von Moskau und sein Verhältnis zu Putin, aber es lässt sich auch deklinieren in den verschiedenen islamischen Varianten der Gottestaatler und fundamentalistischer jüdischer Siedler.
Wie es gehen kann, das zeigt die episkopale Bischöfin von Washington, die mit Mut und Demut um Barmherzigkeit, dem Kern des christlichen Verstehens der Liebe bittet. Dass das Herrschenden nicht gefällt und Konsequenzen haben kann – das nennt man Martyrium.
Für uns, die wir in diesen neuen Konstellationen als Christen neu aufwachen und neu unseren Ort beschreiben müssen, beschreiben diese „Zeichen der Zeit“ die Herausforderung, klar und demütig, nicht aus dem Gestus angewöhnter moralischer Überlegenheit, eine Kultur des Miteinanders und der Solidarität, der Verlässlichkeit und des Vertrauens zu bezeugen und durch unsere Weggefährtinnenschaft mit allen Menschen, vor allem den „Armen und Bedrängten jedweder Art“ (Gaudium et spes 1), Zeichen zu setzen für einen Gott, der den Menschen liebt.
Das ist keine Machtposition, das ist keine moralische Überlegenheit, sondern ein selbstbewusstes Zeugnis für kreative Menschlichkeit, das zugleich weiß, das ihm widersprochen wird. Doch zur radikalen Liebe gibt es keine Alternative.
Christian Hennecke
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