Hubertus Brantzen
Der Sündenfall
05.02.2025
„Der Sündenfall wird Sie für immer begleiten. Aber das Tor zur Hölle, ja, ich sage es, das Tor zur Hölle können wir noch gemeinsam schließen.“ So wandte sich Rolf Mützenich, SPD-Fraktionschef im Deutschen Bundestag, an Friedrich Merz, als am vergangenen Freitag das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz in der zweiten Lesung scheiterte. Eigentlich können Merz und Mützenich ganz gut miteinander, sagt man. Nun aber ist Wahlkampf, und da müssen alle feste zuschlagen. Ein genauer Blick auf Mützenichs Worte lohnt sich.
Das Wort „Sündenfall“ bezieht sich auf die Erzählung in Genesis 3. Die ersten Menschen, Eva und Adam, setzen sich hinweg über das Verbot Gottes, vom Baum in der Mitte des Gartens Eden zu essen. Eva pflückt einen Apfel vom Baum und verführt Adam hineinzubeißen. Da bemerken sie, dass sie nackt sind. Gott erwischt sie. Adam schiebt die Schuld auf Eva, Eva schiebt sie weiter auf die Schlange, den Teufel. Die Konsequenz: Sie werden aus dem Paradies gejagt, und ein Engel bewacht mit einem Feuerschwert dessen Eingang. Von nun an gibt es für die beiden nur noch mühsame Arbeit, Schmerzen bei der Geburt von Kindern und die Herrschaft des Mannes über die Frau.
Zug um Zug könnte man nun die Elemente dieses Bibeltextes auf den „Sündenfall“ im Bundestag übertragen: Wer verführt wen? Was oder wer ist der „Apfel“ am Baum, der zum Prüfstein wird? Wer ist hier die Schlange, der Teufel? Inwiefern stehen wir „nackt“ da? Was sind die Konsequenzen, wenn wir aus dem Paradies ausgeschlossen werden? …
Allerdings bleibt man gleich an der Tatsache hängen, dass kaum jemand in unserem Land behaupten würde, wir lebten gegenwärtig im Paradies. Vielmehr erleben wir in aller Härte, wie sehr wir in vielfältigen Formen an den Folgen eines tiefer liegenden „Sündenfalls“ leiden: Eitelkeit des Menschen, Besserwisserei, Angst um die eigene Identität und Angst vor allem Fremden, das vermeintliche Recht des Stärkeren, die Schwachen leiden zu lassen, das Hinwegsetzen über die Vorgaben Gottes, wie wir mit der Natur des Menschen und den Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung umgehen sollen – und vieles andere.
Vielleicht meinte Mützenich: Wer die Konsequenzen jenes Ur-Sündenfalls zum Parteiprogramm erhebt, der öffnet das Tor zur Hölle. Und unsere Hölle wäre der Versuch, das vermeintliche Paradies Deutschland vor allem Fremden abzuschotten. Wollen wir die Nachfahren derer, die vor einem dreiviertel Jahrhundert in unserem Land genau wussten, wer dazugehört und wer nicht, tatsächlich dieses Tor erneut öffnen lassen?
Mützenich behauptet nicht, der Adressat seiner Worte, Kanzlerkandidat Merz, beschwöre die Hölle herauf. Doch warnt er davor, in diese Hölle auch nur hineinzuschauen. Wenn das Tor geöffnet ist, geht es vielleicht nicht mehr zu. So lädt er Merz ein, gemeinsam das Tor nach einem Blick in den Abgrund wieder zu schließen.
Ich hoffe darauf, dass eindeutige Worte von Merz und Mützenich folgen. Und ich hoffe darauf, dass die meisten in unserem Land die Erzählung der Bibel nicht als Mythos beiseiteschieben oder abtun, sondern mit großer Wachheit eine Neulesung versuchen.
Hubertus Brantzen, Mainz
Foto: Felix Mittermeier auf Pixabay