Michael Gerber
Empfindsam für das Leid der Anderen
09.10.2024
„Wir haben es mit zwei Völkern – Israelis und Palästinensern zu tun, die je auf sehr unterschiedliche Weise von kollektiven Traumata geprägt sind.“ – So die Worte eines Nahostexperten vor einigen Tagen anlässlich eines Vortrags über die Situation im Heiligen Land. Seine Worte kommen mir in diesen Tagen immer wieder in den Sinn, wenn ich die schrecklichen Bilder von der fortschreitenden Spirale der Gewalt im Nahen Osten sehe.
Uns berührt das unsägliche Leid, das damit für Familien und unzählige Einzelschicksale verbunden ist. Uns bewegen die Nachrichten der unzähligen Menschen, die dabei zu Tode kommen oder für ihr Leben an Leib und Seele gezeichnet sind. Zwei Völker – zwei Traumata? Diese Aussage ruft auch Widerstand in mir hervor. Die Shoah, den millionenfachen Mord an Jüdinnen und Juden in den Vergleich mit einem anderen geschichtlichen Ereignis – hier der Vertreibung von Palästinensern 1948 bzw. 1967 – zu setzen, widerstrebt mir zutiefst und dafür gibt es gute Gründe.
Doch bleibend nachdenklich macht mich die Frage, die der Nahostexperte im Anschluss an seine Aussage gestellt hat: Kann es sein, dass diese (kollektive) Traumatisierung bei zumindest vielen Menschen dazu geführt hat, nicht mehr für das Gegenüber – die Angehörigen des anderen Volkes – empfinden zu können? Ob das so ist, ob das im Nahen Osten der Fall ist, wage ich nicht zu beurteilen. Doch hat diese Frage bei mir eine Nachdenklichkeit ausgelöst in Bezug auf mein und unser Urteilen und Handeln. Wo bin ich zu schnell mit einem Urteil in Bezug auf die großen und kleinen Dramen unserer Zeit? Wie achtsam begegne ich Menschen, die eine Traumatisierung erlebt haben?
„… und unsere Schritte zu lenken auf Wege des Friedens…“. So bete ich es mit unzähligen Christen auf der ganzen Welt jeden Tag im Morgengebet der Kirche. Möge dieses Gebet uns leiten in unserem Urteilen und Handeln. Und beten wir weiter für den Frieden in den großen Krisengebieten unserer Erde.
Bischof Dr. Michael Gerber, Fulda
Bild von Rodolfo Quevenco auf Pixabay