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Peter Kohlgraf

Evangelium und Kultur

14.08.2019

Nicht erst heute, nachdem wir immer stärker mit dem Thema Kirchenaustritt konfrontiert sind, ist von der Notwendigkeit einer „(Neu) – Evangelisierung“ die Rede. Bereits Papst Paul VI. hat die Situation 1975 im Apostolischen Schreiben „Evangelii Nuntiandi“ so beschrieben: „Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist ohne Zweifel das Drama unserer Zeitepoche, wie es auch das anderer Epochen gewesen ist.“ In diesem Satz deutet sich an, dass Evangelisierung in der gesamten Geschichte der Kirche nie abgeschlossen war und auch nie zu einem Ende kommen wird. Denn es geht um mehr als um die Vermittlung christlicher Glaubensinhalte, auch wenn diese selbstverständlich zur Evangelisierung gehören.  

In manchen Forderungen nach Evangelisierung klingt diese Engführung auf das Glaubenswissen meiner Wahrnehmung nach an. Wenn der Bruch zwischen dem Evangelium und der Kultur der Menschen Wirklichkeit ist, bedeutet Evangelisierung, das Evangelium in Tat und Wort in die Kultur, d.h. die Lebenspraxis einer Gesellschaft, hineinzutragen, die Menschheit zu erneuern und die Welt von innen her zu verwandeln.
Paul VI. wies 1975 darauf hin, dass Evangelisierung ein vielschichtiger Prozess sein müsse, und man sie nicht auf ein Element reduzieren dürfe.

Um ein Beispiel zu nennen: Wenn wir evangelisieren wollen, müssen wir über angemessene Formen der Katechese nachdenken, aber Evangelisierung ist nicht identisch mit der Katechese. Will man die Lebenskultur der Menschen aus dem Geist des Evangeliums heraus verändern, wird die Kirche auf vielen Klaviaturen spielen müssen. Natürlich muss sie nach guten Formen der Vermittlung ihres Bekenntnisses suchen, aber genauso muss sie sich um das Kennenlernen und Verstehen der Kultur der Menschen mühen, um ein Hören ihrer Fragen und Sehnsüchte, denn anders kann der Bruch nicht geheilt werden, von dem der Papst spricht.

Die Kirche evangelisiert als Weltkirche, aber der Papst ermahnt auch zum Ernstnehmen der Kultur der Menschen in einer Teilkirche. Nicht selten bleibt es bei diesem Lippenbekenntnis. Sie muss das Evangelium erfahrbar machen als Botschaft der Befreiung und Entfaltung des ganzen Menschen. Zur Evangelisierung gehört das Lebenszeugnis des einzelnen Glaubenden, aber auch eine glaubwürdige Lebensgestalt der Kirche als ganzer.

Die Erfahrung einer radikalen Unglaubwürdigkeit benennen viele Menschen heute, wenn sie nach ihrem Verhältnis zu Kirche und Glaube gefragt werden. Evangelisierung in dem Sinne: „Man muss ihnen die Kirche und ihren Glauben nur besser erklären“, wird ihnen nicht helfen. Wenn der Papst feststellt, dass auch die Kirche immer einer neuen Evangelisierung bedürfe, bevor sie sich auf den Weg zu anderen mache, geht es auch um ein neues Bemühen eines überzeugenden Lebens.

Die Kirche versteht sich als Sakrament, als Zeichen und Werkzeug. Ein Zeichen muss aber auch verstanden werden können, auch von denen, die Christus nicht kennen. Kirchliches Leben in einer religiösen Sonderwelt verhindert Evangelisierung. Wenn wir heute nach der Evangelisierung fragen, stellt uns Papst Paul VI. einen höchst anspruchsvollen Weg vor Augen. Wir sollten ihn zu gehen versuchen, in seiner ganzen Komplexität.

Bischof Dr. Peter Kohlgraf, Mainz


                                    Foto: pixabay.com

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