Michael Gerber
Was gibt den Menschen einen letzten Halt?
17.06.2020
Kürzlich meinte ein guter Freund zu mir: „Wäre ich Wahlkampfmanager in den USA, würde ich meinem Kandidaten den Slogan empfehlen: UNITED States of America“. Im Zentrum steht also die Frage: Welche Kräfte halten eine Gesellschaft zusammen?
Diese Frage stellt sich nicht nur in den USA, sondern auch bei uns. In der gegenwärtigen Phase der Pandemie zeigt sich deutlich, wie unterschiedlich Menschen auf einzelne Maßnahmen reagieren. Führt dies zu einer vertieften Solidarisierung gerade mit Risikogruppen und existentiell Betroffenen – oder erleben wir eine Phase der Entsolidarisierung? Die Diskussion kommt nicht zur Ruhe: Welche Maßnahmen sind richtig? Und welche Regelungen werden auf Dauer welche Auswirkungen haben?
In diesem Diskurs zeigt sich eine der größten Herausforderungen unserer modernen Lebenswirklichkeit. Wir müssen begreifen, dass die Zustände nicht nur kompliziert sind, sondern wirklich komplex. Welche Wirkung einzelne Maßnahmen haben und in welche Wechselwirkung verschiedene Faktoren tatsächlich treten, kann niemand mehr exakt vorhersagen: Ökonomische Entwicklung und Gesundheit, Globalisierung und die Entwicklung des Klimas, politische Verschiebungen und Migration, knappe Ressourcen und Verteilungsgerechtigkeit. Wir hätten in diesen Zusammenhängen gerne lineare, vorhersehbare Entwicklungen. Wir müssen aber permanent mit sprunghaften neuen Zuständen rechnen, die wir nicht vorherbestimmen können. So gut es geht, arbeiten Wissenschaftler an Szenarien und geben Begründungen, wie sie zu dieser oder jener Prognose kommen. Aktuell zeigt sich das etwa in den Analysen der führenden Virologen, beziehungsweise ihrer Institute. Zur wissenschaftlichen Exaktheit gehört heute, jene Fragen zu benennen, die seriös nicht beantwortet werden können. Daraus ergibt sich eine bleibende Unsicherheit, in der dennoch Entscheidungen getroffen werden müssen und Maßnahmen umgesetzt werden.
Mit dieser Spannung umzugehen, die nicht aufgelöst werden kann, ist eine der zentralen Herausforderungen heute. Hier bekommen wir eine Ahnung von Komplexität. Wir erleben es an uns selbst: Als aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie waren wir mit dieser Herausforderung bislang weitgehend nicht konfrontiert. Nach und nach müssen wir aber begreifen, dass es trotz aller Anstrengung die einfache Erklärung nicht mehr gibt und eine Vorhersehbarkeit von Entwicklungen schnell an ihre Grenzen kommt. Demokratien sind der Gefahr ausgesetzt, dass die großen Vereinfacher dies als ihre Chance sehen, um mit Polarisierung und einseitiger Schuldzuweisung „Politik zu machen“. Die Sehnsucht nach Halt und Orientierung steckt in jedem Menschen und äußert sich gerade in unübersichtlichen Zeiten. Damit gilt es verantwortungsvoll umzugehen.
Das Sinnangebot in der Tradition des Judentums und des Christentums zeigt hier eine wesentliche Perspektive auf: Menschen erfahren sich als gehalten in einem tiefen Grund, in Gott. Sie erfahren, dass diese Wurzel hält und hilft, den genannten Unsicherheiten nicht auszuweichen, sie nicht vorschnell auszublenden, sondern sich ihnen zu stellen. Sowohl die Geschichte des Volkes Israels als auch der jungen Kirche ist geprägt von erheblichen Krisen, Zusammenbrüchen und damit verbundenen existenziellen Unsicherheiten. Doch es fällt auf: Hier begegnen uns Persönlichkeiten, die im guten Sinne kreativ mit den Herausforderungen umgehen können und so ihren Beitrag für ein menschliches Miteinander leisten.
Dies ist eine zentrale Aufgabe unserer Kirchen heute: Wo und wie schaffen wir Erfahrungsräume,in denen die Menschen einen „letzten Halt“ erfahren, der ihnen hilft, den Unsicherheiten unserer Zeit angemessen und zugleich kreativ zu begegnen? Ich bin als Bischof von Fulda dankbar, auf viele solche Ansätze zu stoßen. Fördern wir sie und helfen wir einander, mit der hier beschriebenen Komplexität der Herausforderungen angemessen umzugehen!
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