Hubertus Brantzen
Der Brexit und ganz alte Geschichten
12.12.2018
In einem Gespräch mit Bewohnern der südost-irischen Stadt Wexford ging es um das Verhältnis von Irland und Großbritannien. Ganz aufgeregt berichteten die Iren, dass die Engländer drei Ladungen Getreide, die für Irland bestimmt waren, vor ihrer Küste ins Meer geschüttet hätten. Ich überlegte, ob ich Nachrichten der vergangenen Tage versäumt hätte, bis ich durch Nachfragen erkannte: Dieser Vorwurf betraf die Auseinandersetzungen während der sogenannten Kartoffelpest in den 1840er Jahren.
Eine ähnliche Erfahrung machte ich mit einer Gruppe in Dublin. Wir wollten etwas über Hintergründe der Streitigkeiten zwischen Nordirland und der Republik Irland hören. Zur Erklärung begann unser Gesprächspartner, die Geschichte des Streites mit England seit dem 13. Jahrhundert aufzuzeigen. Als er nach einer Viertelstunde erst im 16. Jahrhundert angekommen war, fragte ein Teilnehmer etwas ungeduldig an, ob der Konflikt nicht gestrafft aufgezeigt werden könne. Sichtlich verstimmt fuhr der Ire ihn an: Ohne diese Geschichte könne man den Konflikt nicht verstehen.
Wenn es in diesen Tagen um den Brexit und dabei noch einmal speziell um die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland geht, dann darf man sich nicht der Täuschung hingeben, es gehe nur um pragmatische Lösungen. Hintergründig, vielleicht verdeckt, aber doch hoch emotional und hoch wirksam, wird inklusiv ein Jahrhunderte zurückreichender Streit mitverhandelt. Zu sehr sind noch die blutigen Auseinandersetzungen präsent, die zwischen den nordirischen Protestanten und den irischen Katholiken das Klima vergifteten und erst 1998 zu einem Ende kamen. Vielleicht kann man so formulieren: Viele Briten befürchten die Bevormundung durch die Europäische Union – und viele Iren befürchten die Bevormundung durch die Briten.
Diese Erkenntnis umfasst nicht das ganze Problem des Brexit, macht aber die Wirkmächtigkeit der Geschichte deutlich. Hier wie an anderen Stellen der Erde – so etwa im Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern – wird deutlich: Was Menschen, Gruppen und Völker einander angetan haben, kann man nicht kurzfristig, etwa mit einem Vertrag, aus der Welt schaffen. Es bedarf einer geduldigen und langwierigen Arbeit der Annäherung und der Versöhnung. Und selbst Friedensverträge sichern nicht, dass nicht doch bei nächster Gelegenheit alte Wunden aufbrechen und man sich gegenseitig vorwirft: „Wir wussten es ja schon immer!“
Hierhin passt zweifellos das von Kanzlerin Merkel oft bemühte Wort „alternativlos“. Mittel- und langfristig tragfähige Lösungen lassen sich nur im fortdauernden Dialog finden. Im Dialog kann Vertrauen wachsen und können gemeinsame Werte und Überzeugungen gefunden werden. Gelingt das nicht, wird man auch in Zukunft die Geschichte seit dem 13. Jahrhundert bemühen, um sich selbst ins rechte Licht und andere ins Unrecht zu rücken.
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