Gertrud Pollak
Zeit ist Leben? oder: In seiner Hand steht meine Zeit
06.09.2023
Ein Feature im Radio berichtet, dass die „Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) ihr zwanzig jähriges Bestehen feiert. „Zeitpolitik“ – nie gehört! Die zugehörige Homepage lehrt anderes: Zeitpolitische Initiativen finden Resonanz bei vielen Bürgerinnen und Bürgern. Die Zeit selber ist nicht fassbar, aber die Probleme mit der Zeit können wir anpacken. Die DGfZP ist wissenschaftlich orientiert, aber keine exklusive akademische Vereinigung. Interessant, dass die Gesellschaft 2005 ein Zeitpolitisches Manifest mit dem Titel vorgestellt hat: »Zeit ist Leben«. Dort finden sich Grundbegriffe der Zeitpolitik, ihre Felder, Instrumente und Strategien, auch ein zeitpolitisches Glossar.
Leise Erinnerungen werden wach an all das, was gelegentlich von der Chronobiologie zu lesen war. Sie befasst sich mit der zeitlichen Organisation von biologischen Systemen, etwa dem, was als „innere Uhr“ verstanden wird. Diese körpereigene, innere Uhr steuert den Schlaf-Wach-Rhythmus. Sie legt fest, wann wir leistungsfähig sind und wann wir gut schlafen können. Zeit ist also doch irgendwie Leben.
Sind da nicht gerade die Wochen im Jahr, in denen Zeit eine andere Qualität haben darf spannend. Urlaubszeit! Diese Wochen sind eine enorme Chance, Zeit als lebenswert zu erfahren. Zeit bedeutet Freisein von Zwängen. Bleibt die Möglichkeit, Zeit anders zu füllen, wertvolle Termine für uns selbst zu machen. Oder auch nicht? Zeit clever nutzen!
Es fällt vielen nicht leicht, die Zeit in diesen Wochen selbst zu regeln. Natürlich macht es die Digitalisierung möglich, dass wir mehr Zeit haben, weil vieles schneller geht. Nur fressen meine digitalen Geräte nicht auch meine Zeit, weil etwa das Handy ständig meine Aufmerksamkeit fordert? Gehören wir vielleicht zu denen, die immer „Sofortness“ erwarten? Ich investiere Zeit in meine digitalen, oft täglichen Bestellungen, die in Paketen möglichst sofort ankommen sollen. Keine Zeit, keine Geduld, keine Ruhe: „Sofortness!“
Gerade im Urlaub, auf Reisen, erfahren wir auch, dass andere Kulturen andere Zeitbegriffe haben. Dazu gibt es interessante Sprichwörter. Es gäbe Afrikaner, die sagen: “Die Europäer haben Uhren, wir die Zeit.“ Ja, für uns gibt es gute Hilfen, Kalender und Uhren, um die Zeit zu messen, aber das will nicht alles besagen. Jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Zeit ist Leben.
Schon lange vor unserer Zeitrechnung beschreibt die Bibel im 3. Kapitel des Buches Kohelet, die Vielfalt, wie Leben wirklich Zeit ist:
“Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen der Pflanzen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz; eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steine sammeln, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen, eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten und eine Zeit zum Wegwerfen, eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden, eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.“ (Koh 3,1-8)
Zeit bestimmt unser Leben. Orientierung schenkt die schlichte Zuversicht, der Satz, der wirklich Leben prägen hilft: „In Deiner Hand steht meine Zeit“ (Ps 31,16)
Dr. Gertrud Pollak, Vallendar
Ordinariatsdirektorin a. D.
Generaloberin Säkularinstitut Frauen von Schönstatt
Foto: David auf Pixabay